Ratlos stehe ich am Fähranleger Lühe und starre auf das Schild über dem Zugang: „Freu’ Dich. Du bist im Landkreis Stade“. Meine Euphorie hält sich allerdings in Grenzen. Gerade habe ich erfahren, dass die 10-Uhr-Fähre, die mich in 25 Minuten von Lühe zum Schulauer Fährhaus in Wedel bringen soll, aufgrund eines technischen Problems ausfällt. Nächste Abfahrt: 12 Uhr. Einen Moment überlege ich, abzubrechen und diesem Text den Titel „Wie ich versuchte, zu pilgern und schon vorm Loslaufen gescheitert bin“ zu geben. Denn die Lühe-Schulau-Fähre ist an dieser Stelle die einzige direkte Verbindung über die Elbe und selbst die frommsten Pilgerinnen und Pilger können nicht einfach über das Wasser spazieren. Was viele aber sicher gut beherrschen: sich in Flexibilität und Achtsamkeit üben. Aufgeben ist also keine Option, stattdessen: Planänderung.
Der Anfang ist immer schwer
Fred Brodina
Zwei Busverbindungen und eine Fähre später – mittlerweile ist es 12 Uhr mittags – gelange ich über Jork und Finkenwerder nach Teufelsbrück. Hier bin ich mit Fred Brodina zum Pilgern verabredet, der zusammen mit Michaela Gercke den Hamburger Pilgerstammtisch organisiert. Die Runde trifft sich regelmäßig alle vier bis sechs Wochen im Einstein City. Auch Andrea Marie Eisele nimmt manchmal daran teil. Im vergangenen Jahr ist ihr Buch „Zum Glück gelaufen“ erschienen, ein Reisebericht über ihren Weg auf dem „Camino Francés“. Beim Pilgern hat die Autorin ihren zukünftigen Mann Ben kennengelernt. „Ich glaube nicht, dass wir in einer anderen Situation in unserem Leben Zugang zueinander gefunden hätten“, sagt Eisele, „wir waren damals in ganz anderen Sphären unterwegs, er in Basel, ich in Berlin.“ Heute lebt das Paar in Wedel und hat einen vierjährigen Sohn, mit dem es im Jahr 2025 auf eine neue Pilgerreise gehen will.
Via Baltica: Der Hamburger Jakobsweg
Für mich steht erst einmal ein Stück auf der Via Baltica an, einem der vielen Pilgerwege in Europa. Hartnäckig hält sich jedoch die Annahme, dass es nur den einen Jakobsweg gibt, womit in der Regel der „Camino Francés“ gemeint ist. Die klassische Route führt von der französisch-spanischen Grenze und den Pyrenäen durch den Norden Spaniens bis nach Santiago de Compostela. Ihr Ziel, die Kathedrale, erreichen ambitionierte Pilgernde nach knapp 800 Kilometern und fünf bis sechs Wochen Fußmarsch. Der populäre „Camino Francés“ stellt andere Jakobswege in den Schatten. Dabei ist allein der durch Deutschland verlaufende Abschnitt der Via Baltica mit rund 762 Kilometern fast genauso lang.
Vom Baltikum kommend, führt der Weg in Swinemünde über die polnisch-deutsche Grenze und passiert im Norden die Hansestädte Greifswald, Rostock, Wismar und Lübeck, bevor er Hamburg und Wedel durchläuft. Mit der bereits erwähnten Fähre geht es dann über die Elbe auf die niedersächsische Seite, weiter nach Bremen, Osnabrück und in der Verlängerung nach Münster. Dort schließen westfälische Pilgerrouten gen Süden an. In Hamburg deckt sich die Via Baltica teilweise mit dem Alsterwanderweg im Norden und dem Elberadweg im Südwesten: Von Kayhude führt die Route über Poppenbüttel, Ohlsdorf und Winterhude mitten ins Stadtzentrum hinein – und Richtung Altona, Blankenese und Rissen wieder hinaus.
Aus logistischen Gründen haben Brodina und ich uns dazu entschieden, die Via Baltica entgegen der Pilgerrichtung in die Innenstadt hineinzugehen. Das Ziel: das Pilgerzentrum im Norden St. Jacobi Hamburg. Da wir uns erst in Teufelsbrück statt wie geplant in Wedel treffen, verringert sich die Strecke um mehr als die Hälfte auf zehn Kilometer.
Jakobsmuscheln weisen beim Pilgern in Hamburg den Weg
„Der Anfang ist immer schwer“, sagt Brodina, als er von der geplatzten Fährüberfahrt hört und erzählt von seiner ersten Pilgerreise im Jahr 2006 auf dem „Camino Francés“. Von Pamplona bis nach Burgos sei er gekommen, dann, nach gut zwei Wochen, haben die Gelenke nicht mehr mitgemacht und er musste mit einer Fußverletzung abbrechen. „Ich habe meine Frau angerufen und geheult“, erinnert sich Brodina. „Sie sagte am Telefon zu mir: ‚Dann versuchst du es im nächsten Jahr einfach noch mal‘“ – und genau das tat er, mit besserer körperlicher Vorbereitung und weniger Gepäck. Mittlerweile ist der 76-Jährige schon mehr als zehnmal nach Santiago de Compostela gepilgert, schätzt, dass er über 7000 Kilometer zu Fuß auf seinen Reisen zurückgelegt hat.
Brodina hat mir eine Jakobsmuschel mitgebracht, sie ist das Schutz- und Erkennungszeichen der Pilger. Eine Muschel – gelb vor blauem Hintergrund – ist es auch, die auf den Jakobswegen als Orientierung dient. Für die Kennzeichnung der meisten Jakobswege, so auch der Via Baltica, ist die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft zuständig. Auf unserer Strecke finden wir die blau-gelben Aufkleber zum ersten Mal am Hans-Leip-Ufer, müssen dafür aber ganz genau hingucken. Zu viele andere Sticker zieren die Laternenpfähle. Am Elbstrand in Övelgönne kommen uns viele Tagesausflügler entgegen, zu erkennen am leichten Gepäck. Andere Pilgernde suchen wir vergebens. Brodina pilgert deshalb am liebsten in Spanien und Portugal. „Die Menschen sind der Weg“, sagt der gebürtige Ostfriese, der auf seinen Reisen schon einige gute Bekannt- und Freundschaften geschlossen hat. Mit Co-Stammtisch-Organisatorin Michaela Gercke war er schon mehrmals zusammen unterwegs.
Pilgerausweise: Mehr Stempel als im Reisepass
Im Café Schmidt Elbe legen wir eine Pause ein. Brodina zeigt mir zwei seiner Pilgerausweise, den spanischen und den deutschen. Sie berechtigen ihren Inhaber, in Pilgerherbergen zu übernachten. Verschiedenfarbige Stempel füllen die Spalten auf den Seiten aus. Diese stammen aus Kirchen und Herbergen. Besonders auf dem Weg nach Santiago de Compostela ist es wichtig, die Stempel mit Datum zu sammeln, weil anhand ihrer überprüft wird, ob ein Pilger die letzten 100 Kilometer auf dem Jakobsweg wirklich zu Fuß zurückgelegt hat. Erst nach diesem Check wird am Endpunkt die begehrte Pilgerurkunde, die Compostela, ausgestellt. In Hamburg stempelt unter anderem das Pilgerzentrum in der Hauptkirche St. Jacobi Pilgerausweise ab. Bei der Christianskirche in Ottensen ist ebenfalls eine Stempelstation im Außenbereich zu finden.
Brodina empfiehlt mir außerdem die „Camino Ninja App“, eine beliebte Anwendung, die bei der Navigation auf spanischen und portugiesischen Jakobswegen hilft. Um meine Route auf der Via Baltica zu planen und zu verfolgen nutze ich dagegen die übersichtliche App „Camino Love“, die mich mit leichter Bedienoberfläche überzeugt.
Beim Pilgern Hamburger Sehenswürdigkeiten erkunden
Wir setzen unseren Weg auf der Via Baltica fort, kommen vorbei an Fischmarkt, Park Fiction und Landungsbrücken, bevor wir ins Portugiesenviertel abbiegen. Dieser Jakobsweg ist so gut wie eine Stadttour! Führt er doch an allen wichtigen Hamburger Sehenswürdigkeiten entlang. Die Sonne steht am wolkenlosen Nachmittagshimmel, sodass wir uns an der Michelwiese noch einmal kurz unter schattige Bäume setzen. Brodina lehnt seinen Pilgerstab an eine Bank. Daran ist ein weißes Band mit lilfarbenem Kreuz befestigt. Der gebürtige Ostfriese ist katholisch. Weil seine Frau evangelisch ist, haben sie sich in der evangelisch-lutherischen Hauptkirche St. Jacobi trauen lassen – vom ehemaligen Pilgerpastor Bernd Lohse. Aus religiösen Gründen sei er nicht zum Pilgern gekommen, sagt Brodina. Vielmehr wollte sich der gelernte Werkzeugmacher wieder mehr bewegen und durchs Gehen fitter werden.
Die Menschen sind der Weg
Fred Brodina
Unser nächster Stopp ist das Seemannsheim Hamburg am Michel. Hier können Pilgernde unterkommen. Weil es in Hamburg und generell in Deutschland wenige ausgewiesene Pilgerunterkünfte gibt, ist das Seemannsheim eine gute und zentrale Alternative. Ein Gast auf der Treppe vor der Unterkunft bekommt unsere Unterhaltung über das Pilgern mit und wirft ein: „Aber hier ist doch gar nicht der Jakobsweg.“ Wir klären ihn über die Via Baltica auf und fragen im Seemannsheim nach. „Dieses Jahr sind schon einige Pilger eingekehrt, weil wir direkt am Weg liegen“, sagt der Rezeptionist.
Ankunft im Pilgerzentrum St. Jacobi Hamburg
Gegen 16.30 Uhr haben wir unser Ziel, die Hauptkirche St. Jacobi, erreicht. 2271 Kilometer sind es von hier nach Santiago de Compostela – das verrät ein Wegweiser vor dem Gebäude. Erstmals wurde die Kirche im Jahr 1255 erwähnt, damals als Kapelle für Pilgernde vor den Toren der Stadt. Das Pilgerzentrum befindet sich in einer Seitenkapelle von St. Jacobi. Im oberen Bereich hat der neue Hamburger Pilgerpastor Frank Karpa sein Büro. Er und sein ehrenamtliches Team organisieren regelmäßig Veranstaltungen für Pilgernde, etwa die monatliche Pilger-Vesper (1. Donnerstag im Monat, 18 Uhr), geführte Tagestouren oder das Format „Schweigend um die Alster“. Unten im geöffneten Pilgerbüro sitzt Barbara Wildeboer und stellt einem Mann gerade einen neuen Pilgerausweis aus, der den „kleinen“ „Camino Português“ ab Porto (240 Kilometer) gehen möchte. Daneben gibt es hier allerhand Info- und Kartenmaterial gratis oder käuflich zu erwerben.
Wir gehen rüber in die Kirche, wo das donnerstägliche Orgelkonzert beendet ist, und bleiben vor einer Statue stehen. Es ist der Heilige Jacobus, der Schutzpatron der Pilger, erkennbar am Pilgerstab. Noch eine weitere Statue des Apostels existiert in St. Jacobi. Sie sieht lädiert aus, aber hat den großen Brand im Zweiten Weltkrieg überstanden – ein Sinnbild, Pilgernde sind zäh und haben Durchhaltevermögen.
Pilgerzentrum im Norden St. Jacobi, Jakobikirchhof 22, 20095 Hamburg
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 08/2024 erschienen.