Der Klassiker von George Bernard Shaw wurde zu einem modernen ebenso spannenden wie diskussionswürdigen Beitrag zur Flüchtlingsdebatte umgemodelt – doch es gefiel nicht allen in der Redaktion
Das Inlineskater sausen normalerweise aus Spaß in einer Halfpipe hin und her. Zudem können sie jederzeit aussteigen. In der Inszenierung von „Pygmalion“ am Thalia Theater wird die Halfpipe zu einer Falle. Das Büro von Professorin Higgins ist als solche gestaltet und füllt die ganze Bühne. Unheimliche Gestalten treiben darin ihr Unwesen, geckenhafte Frauen und Männer wie Modepuppen führen unter sinnentleert wirkenden Gesten eine absurde Choreografie auf. Wer über die Seitenwände zu entfliehen versucht, den zieht die Schwerkraft stets zurück. Beherrscht werden sie von der misanthropischen Professorin Higgins.
Als ein junger freundlicher Mann namens Eliza Sprechunterricht nehmen will, reagieren die Wesen um Higgins verschreckt. Denn in jener abnorm erscheinenden Welt wirkt Eliza wie ein Sonderling. Die Professorin nimmt die Aufgabe als „humanitären“ Auftrag, Eliza wird in ein rosa Kleid gesteckt und zur absoluten Anpassung verpflichtet. An dieser erzwungenen Umerziehung wird die Angst und Verwirrung eines Menschen in der Fremde deutlich. Oda Thormeyer verkörpert die Professorin als diabolische Überzeugungstäterin, die ihr Handeln als einzig logische Maßnahme zur Verbesserung von Elizas Leben begreift.
Entsprechend montieren die Regisseure Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo Teile der Textvorlage von George Bernard Shaw zu einer Parabel über Leitkultur und Menschenwürde. Allerdings bleibt so von der Dramatik und den amüsanten Dialogen des Originals nichts übrig. Dennoch, wer sich darauf einlässt, wird belohnt: Mit einem ebenso spannenden wie diskussionswürdigen Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsdebatte.
/ Kritik von Reimar Biedermann erschienen am 04/2016 in SZENE HAMBURG
Thalia Theater, Premiere: 19.3.2016
Foto: Armin Smailovic