Ramona Richter sieht vergnügt aus. Ein spielerisches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Joggen von daheim zu ihrem Fitnessstudio Elixia in Norderstedt, 15 Kilometer Radfahren, fünf Kilometer Schwimmen – dieser Tag hat sehr gut angefangen. Kurze Zeit später jedoch muss Richter sich zusammennehmen. Die 1,62 Meter große, sportliche Frau zittert leicht. Ihre Stimme stockt, ihre Augen werden feucht. Sanft nutzt sie ihre innere Kraft, um ihre Geschichte gefasst weiterzuerzählen. Eine Geschichte, so Richter, die mit „ehrlicher Freude am Laufsport“ begann.
Vater Johannes (61) war Marathonläufer, Bruder Mathias (36) Sprinter, Mutter Alicia (59) Gesundheitssportlerin. In der Familie Richter bewegte man sich und war fit. Weil es Spaß machte. Doch für die im Hamburger Stadtteil Mümmelmannsberg geborene Richter kehren sich die Vorzeichen um, als sie mit 16 Jahren in der Oberstufe das Sprachprofil wählt. Sie landet dadurch in einer reinen Mädchenklasse. „Ich verglich mich mit meinen sehr schlanken Mitschülerinnen, obwohl ich gar nicht dick war. Jedenfalls wollte ich eine konsequente Diät durchziehen“, erinnert sich Richter.
Wie konsequent diese sein wird, zeigt sich bald. Richter, die bis dahin ihre Mahlzeiten nach Lust und Laune genossen hat, wird zur unerbittlichen Kontrolleurin ihres eigenen Körpers. Sie isst immer weniger. An die Stelle ihrer bisherigen gesunden und vollwertigen Ernährung tritt nun der Zwang, immer noch schlanker sein zu wollen. „Ich wollte mir signalisieren: Ich habe alles im Griff.“
Ramona Richter über ihr Leben mit einer Essstörung
Durch diese extreme Kontrolle entgleitet ihr Leben. Ausgerechnet das Laufen wird fast ein weiterer Sargnagel auf ihrem scheinbar unaufhaltsamen Weg in den Untergang. Sie läuft bis zu 170 Kilometer die Woche. Manchmal bis zu 30 Kilometer am Tag. Nüchtern. Abends gibt es als einzige Mahlzeit des Tages etwas Müsli und Quark. Mehr gönnt sie sich nicht. Richter studiert Bewegungswissenschaften an der Universität Hamburg. Nach Abschluss ihres Studiums zieht sie daheim aus, beginnt eine Karriere als selbstständige Sportjournalistin. In ihrer eigenen Wohnung verstärkt sich die Essstörung, da sie sich nun nicht mehr unmittelbar mit ihren Eltern auseinandersetzen muss. Richter zieht sich immer mehr zurück, bricht aber nicht alle sozialen Kontakte ab.
An diese Zeit erinnert sich Tabea Themann (33). Die mehrfache Hamburger Meisterin im Marathon lernte Richter 2017 bei einem Wettkampf kennen. Beide freundeten sich an. „Beim Thema Essen druckste Ramona ständig herum. Sie erschien zu Einladungen gar nicht. Oder sie kam, aß eine Suppe und ging wieder. Gleichzeitig wurde sie immer dünner. Wir haben gemerkt, dass sie gelogen hat.“ Wir, das sind Themann und eine weitere Freundin, die Langstreckenläuferin Katharina Nüser (36). Im August 2020 fassen sich die beiden nach einigen erfolglosen Gesprächen zuvor ein Herz. „Wir haben Ramona klar gesagt, dass sie aus unserer Sicht eine Essstörung hat. Das war ein intensives und krasses Gespräch. Ramona konnte noch nicht eingestehen, dass wir recht haben. Aber sie ist mit Tränen in den Augen nach Hause gefahren.“
Mein Herz stand kurz davor, aufzuhören zu schlagen
Ramona Richter
Nun hören Themann und Nüser ein Jahr lang nichts von Richter. Sie wissen nicht, was Richter danach daheim auf ein Blatt Papier geschrieben hat. „Ich habe mein Leben satt, obwohl ich hungrig bin.“ Sie ist bereits beängstigend dünn, begibt sich in eine Klinik. Doch die alten Mechanismen sitzen noch zu tief. Richter fotografiert Nahrung zum Frühstück ab, die sie gar nicht isst, sondern heimlich wegschmeißt. Sie trinkt vor dem täglichen Wiegen literweise Wasser, um ihr Gewicht künstlich in die Höhe zu treiben. Das geht nicht lange gut. Ihr Blut ist durch die enorme Wasseraufnahme schon so gestreckt, dass die Klinik kaum noch Nährstoffe darin vermutet. Ihre Manipulation fliegt auf. „Die Klinik hat mich entlassen, weil ich mich nicht an die Vorschriften gehalten habe. Mein Blut hat mich verraten. Ich bin ihm so dankbar dafür“, sagt Richter. Sie zieht wieder zu ihren Eltern. Nun noch dünner. Ihr Hausarzt will sie künstlich in einer Klinik ernähren lassen, kann sie aber nicht gegen ihren Willen einweisen. „Mein Herz stand kurz davor, aufzuhören zu schlagen. Es war nicht klar, ob meine Organe überhaupt noch Essen aufnehmen würden. Da habe ich meinen Körper gebeten: Wenn du mir noch eine Chance gibst, zeige mir das bitte morgen früh mit einem guten Gefühl.“
Am nächsten Morgen wacht Richter am 14. Februar 2021, dem Valentinstag, mit einem friedvollen Körpergefühl auf. „Tag der Wende“ sagt sie heute dazu. Sie erlernt positive Visualisierungen, meditiert, führt Buch über ihre Mahlzeiten, lernt unheimlich viel über die richtige Ernährung. Und: Sie gibt das Laufen erst mal komplett auf. Volle Konzentration aufs bewusste, ausreichende und vor allem genussvolle Essen ist jetzt angesagt.
„Ich habe an mir gearbeitet und mich mit Unterstützung meiner Familie zurück ins Leben gekämpft“, sagt Richter. „In einem halben Jahr habe ich 15 Kilo zugenommen.“ Auch ihren Freundinnen ist sie sehr dankbar, nimmt den Kontakt wieder auf. „Katharina und ich freuen uns total für Ramona. Sie hat ihren Kontrollzwang besiegt und eine neue Leidenschaft gefunden“, sagt Tabea Themann.
Ramona Richter kämpft sich mithilfe einer neuen Leidenschaft ins Leben zurück
Diese neue Leidenschaft ist der Triathlon. Seit Anfang 2023 läuft Richter für den FC St. Pauli. Sport bedeutet für sie nun wieder Leistung zu bringen, mit ehrlicher Freude. Bei der Europameisterschaft in ihrer Altersklasse in Frankreich wurde sie Fünfte in der Sprintdistanz (750 Meter Schwimmen, 20 Kilometer Radfahren, fünf Kilometer Laufen). Ihre Eltern waren wie bei jedem ihrer Wettkämpfe dabei. Ihr Bruder Mathias hatte ihr Rad dafür extra von seinem Wohnort in Potsdam nach Frankreich transportiert, damit seine Schwester weniger Stress mit dem Fliegen hat. „Ramona hat wieder ihre Frechheit aus der Kindheit zurückgewonnen. Unser Verhältnis war immer gut. Aber nun ist sie auch wieder meine richtig coole Schwester“, sagt er schmunzelnd. Ihr Geld verdient Richter mittlerweile als ganzheitlicher Ernährungscoach. „Mit Verboten“, sagt Richter, „kommst du beim Essen nicht weit. Nicht reduzieren, sondern in den eigenen Körper investieren, sorgt für Freude und Erfolg.“
Mit ihrer Geschichte will Richter Menschen inspirieren und ihnen helfen. Ihr nächstes Ziel ist die Age Group Triathlon-Weltmeisterschaft im Oktober in Australien. Sie tritt im Einzel und in der gemischten Staffel an. Angemeldet ist sie bereits. Sie hat ein Crowdfunding aufgelegt, um die Kosten etwas abfedern zu können. „Ein Platz auf dem Podium wäre schon cool. Aber vor allem will ich mein Bestes geben“, sagt Richter. Und was wäre die perfekte Belohnung nach dem Wettkampf? „Die Lachslasagne von meiner Mama.“
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 09/25 erschienen.