Protokoll: Sirany Schümann
Ich unterteile mein Leben in eine erste Pubertät, die mein Körper von alleine erzeugt hat, und eine zweite Pubertät, die durch meine medizinische Hormonzufuhr begann. Die starke Dysphorie fing bei mir mit der ersten Pubertät an. Es gab nicht diesen einen Moment, der mich mit 16 Jahren zum Coming-out bewegt hat, sondern es war ein schleichender Prozess. Das war im Jahr 2012, bis 2011 gab es noch die Zwangssterilisation für trans* Personen laut Transsexuellengesetz (TSG). Zu dieser Zeit war das Verständnis von Transgeschlechtlichtlichkeit einfach noch nicht da.
Von trans* Feindlichkeit und Meilensteinen
Meine Mutter hat mich daraufhin zur sexualmedizinischen Therapie geschickt, weil sie gemerkt hat, dass es sie überfordert. Das fand ich ziemlich cool von ihr. Auf der anderen Seite gab es viel Mobbing. Heute betitel’ ich das als trans* Feindlichkeit, früher habe ich es einfach Mobbing genannt. Ich bin dann erst mal ins Ausland gegangen und habe in Dänemark mein Abitur gemacht. Was mir dort zugutekam: Die Leute haben mich von Anfang an als Paul kennengelernt, es hat für sie keine Umstellung gebraucht. Ich bin aus meinem alten Umfeld in der Kleinstadt in Schleswig-Holstein rausgekommen und konnte mich selbst ein bisschen finden.
Jeder Mensch braucht bei einer Transition etwas anderes
Paul Ninus Naujoks
Jeder Mensch braucht bei einer Transition etwas anderes. Ein Meilenstein bei mir war, dass ich gesellschaftlich mit meinem Namen leben kann: Menschen sprechen mich mit Paul und den Pronomen „er“ und „ihn“ an. Es hat für mich auch die Hormonbehandlung gebraucht, mit der ich 2016 angefangen habe. Ein weiterer Meilenstein war die Brustabnahme im Dezember 2021. Die Krankenkasse hat die Mastek zuerst abgelehnt, ich habe Widerspruch eingelegt und daraufhin wurde es genehmigt. Es geht mir nicht darum, möglichst cis männlich zu sein, sondern mir ist wichtig, zu mir zu kommen und einen Körper zu haben, der für mich passt. Die Brustabnahme war für mich der letzte Punkt meiner Transition, den ich für mich gebraucht habe, um mit mir und meinem Körper glücklich und frei zu sein. Dafür habe ich mehr als zehn Jahre gekämpft.
Ein kritischerer Blick auf Männlichkeit
Weil ich die ganze Zeit dieses eine große Ziel hatte, bin ich danach erst mal in ein Loch gefallen. Ich habe mich gefragt: „Okay, was kommt jetzt?“ Meine Partnerin hat mir dann die Infos zu einem Buchpreisausschreiben geschickt. Der Young Storyteller Award war eine Doppel-Challenge: Ich hatte nur einen Monat Zeit zum Schreiben, gleichzeitig war es aber auch ein Akt, um wieder ins Machen zu kommen, wieder ein Ziel zu haben. Daraus ist „Männer und Zerbrechlichkeiten“ entstanden. Ich bin unter die Top Ten gekommen. Hätte ich gewonnen, wäre das Buch bei Thalia im Weihnachtsgeschäft aufgetaucht. Das war auch meine Zielgruppe: Meine Eltern- und Großelterngeneration oder generell Menschen, die sich noch gar nicht mit Transgeschlechtlichkeit auseinandergesetzt haben, sollten darüber Zugang finden. Aber auch von trans* Personen kam die Rückmeldung, dass es ihnen gut tat, Erfahrungen von anderen zu lesen. Ich habe mich an Alltagssituationen orientiert und daraus Kurzgeschichten geschrieben.
Durch meinen Lebenslauf habe ich noch mal eine andere Sicht auf Männlichkeit. Ich bin kritischer, was toxische und traditionelle Männlichkeitsbilder angeht und habe einen leichteren Zugang zu zärtlicheren Männlichkeiten. Mein Verhältnis ist dadurch sehr ambivalent: Es ist zum einen ein Befreiungsschlag, dass ich meine Männlichkeit leben kann, auf der anderen Seite habe ich diese Verantwortung, als dominante Person im Patriarchat zu leben. Wenn eine weiblich gelesene Person nachts vor mir läuft, dann hat das eine ganz andere Wirkung, wenn ich hinter ihr laufe. Dann verhalte ich mich anders, indem ich die die Straßenseite wechsle oder schnell vorbeigehe. Das war früher nicht der Fall. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass Menschen mich nicht mehr als Gefahr wahrgenommen haben, wenn ich mich geoutet habe.
Von Freiheiten und Scheinprivilegien
Es gibt viele Scheinprivilegien, zum Beispiel wenn ich nachts alleine durch die Straßen laufen kann, ohne Angst vor Gewalt haben zu müssen. Ich habe rein objektiv dadurch einen anderen Schutz, gleichzeitig ist es nur ein Scheinprivileg, weil ich auch die Erfahrung als weiblich gelesene Person gemacht habe und diese Ängste von früher noch drin sind. Aber wenn wir uns das gesellschaftliche öffentliche Leben angucken, genieße ich auf jeden Fall viele, viele Freiheiten, die Männer in unserer Welt so genießen. Menschen sprechen mir Expertise grundsätzlich zu. Kleines Beispiel: Ich stand mit einer weiblich gelesenen Person am Straßenrand. Andere Leute haben den Rückwärtsgang nicht reingekriegt und ich wurde direkt gefragt, ob ich helfen kann. Ich habe aber gar keinen Führerschein und die weiblich gelesene Person ist eine der besten Einparkerinnen, die ich kenne.
Zusammen für eine chancengleiche Welt
Bevor ich mich online für die Rechte von trans* Personen einsetzte, war ich offline aktiv. Als 2020 die Pandemie begann, verschob sich mein Fokus aufgrund von Lockdowns ins Internet. Dort bekomme ich nicht nur Zuspruch. Sätze wie „Dein biologisches Geschlecht wird immer weiblich bleiben“ sprechen mir das männliche Geschlecht. Dabei ist das absolut verkürzt und stimmt so nicht. Es gibt rein wissenschaftlich mehrere Faktoren, die über die Genitalien hinausgehen, um das biologische Geschlecht festzustellen. Ich kriege auch zu hören, dass trans* Männer misogyn seien und nichts mit Feminismus zu tun haben. Dabei können sie genauso Diskriminierung im Patriarchat erleben – wir sollten alle zusammen für eine chancengleiche Welt einstehen.
paulninusnaujoks.com
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG „Divers(c)ity“ 2023 erschienen.