Als Mike Frank ein Amateurspiel pfeift, geht ein Mann auf ihn los. Kein Einzelfall auf Hamburger Fußballplätzen. Der 24-Jährige erzählt, was er erlebt hat
SZENE HAMBURG: Herr Franke, welche Erinnerung haben Sie an den Abend des 4. September?
Mike Franke: Ich leitete das Landesligaspiel Bramfeld gegen Dersimspor an der Ellernreihe. Dersimspor verlor unglücklich mit 1:2. Nach dem Abpfiff kam plötzlich ein massiger Mann auf uns zu, ein richtiger Bär. Er sprach meinen Assistenten Marvin Blöh aggressiv an. Ich zog Marvin weg. Da ging er auf mich los.
Sie hatten keine Chance …
Absolut keine! Es ging viel zu schnell. Ein Tritt in die Wade, ein zweiter in die Kniekehle. Ich sackte weg, im Fallen schlug mir der Täter voll ins Gesicht. Ich betete, dass es bald vorbei sei. Hauptsache keine Schmerzen mehr spüren müssen. Auf dem Boden folgte der nächste Schlag ins Gesicht. Ich wurde bewusstlos. Die Prügel- und Tretattacke dauerte laut Zeugen circa drei Minuten.
Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie wieder zu sich kamen?
Ich zweifelte an mir: Warum ich? Womit habe ich das verdient? Habe ich so schlecht gepfiffen? Diese Fragen schossen durch meinen Kopf.
Wie haben die Vereine reagiert?
Sehr gut! Die Physiotherapeuten beider Clubs halfen mir. Dersimspors Kapitän Benjamin Thiel tat viel dafür, den Namen des Täters herauszufinden: Murat T. In der Kabine sagte einer meiner Assistenten: „Als du am Boden lagst, hat der Schläger zu mir gesagt: ,Mach nichts, sonst bist du der Nächste!‘ “ Ich verbrachte die halbe Nacht im Krankenhaus.
Trugen Sie bleibende Schäden davon?
Einige Wochen bestand die Gefahr einer Netzhautablösung. Ich hätte mein rechtes Auge verlieren können. Noch heute flackert es manchmal in meinem Sichtfeld. Gott sei Dank wird es wieder ganz gesund.
Sie wurden mit 16 Jahren Schiedsrichter. Sind Sie jemals geschlagen worden?
Nein. Weder auf dem Platz noch im privaten Bereich.
Wie waren die Wochen und Monate nach der Tat?
Heftig! Ich hatte Schiss, allein rauszugehen. Auf der Straße drehte ich mich ständig um. Die Angst war immer da. Im Dunkeln und wenn ich zur Ruhe kam, war es schlimm. Es lief wieder und wieder der Film in meinem Kopf ab. Dazu Schlafstörungen und Appetitlosigkeit. Ich nahm über 10 Kilo ab in dieser schweren Zeit.
Wer hat sich um Sie gekümmert?
Meine Schwester, die selber Schiedsrichterin ist, und meine Mutter. Auch mein bester Freund. Meine liebsten Menschen schienen immer zu wissen, wann ich reden musste. Sonst wurde einfach gemeinsam geschwiegen. Der Hamburger Fußball-Verband stand voll hinter mir. Mein Schwager Adrian Höhns, 2012 ebenfalls Opfer einer Gewalttat in der 6. Liga, war für mich da. Mithilfe einer Therapeutin verarbeite ich bis heute einmal pro Woche meine Flashbacks.
Wie viel Geld erhält ein Schiedsrichter für ein Landesligaspiel in Hamburg?
Ich habe für das Spiel 32 Euro erhalten, meine Assistenten je 21 Euro. In solchen Ligen pfeift keiner für Geld. Die Schiedsrichterei ist ein Hobby, das viel Spaß macht.
Was gefällt Ihnen daran?
Es ist ein interessanter Rollenwechsel: Mal derjenige zu sein, den man früher als Spieler angemeckert hat. Ich mag die Teamarbeit mit den Assistenten. Vor manchmal 800 Leuten zu pfeifen, ist ein schönes Gefühl. Letztes Jahr bei einem Testspiel des Lüneburger SK gegen den FC St. Pauli war ich Linienrichter. St. Paulis Trainer Ewald Lienen schrie sich heiser. Ich bot ihm einen Hustenbonbon an. Dafür schenkte er mir drei Trikots. Tolles Erlebnis!
Kam Ihnen nach der Gewaltattacke nie der Gedanke ans Aufhören?
Monatelang sogar. Bloß nicht erneut so etwas erleben müssen. Der beste Ratschlag lautete aber: Lass dir dein Hobby nicht von diesem Gewalttäter kaputtmachen.
Sie haben Murat T. bei der Sportgerichtsverhandlung gesehen. Er gab alles zu, entschuldigte sich und darf nie mehr in Hamburg im Verein Fußball spielen, fünf Jahre keinen Sportplatz betreten. Dem Verein Dersimspor wurden drei Punkte abgezogen. Wie haben Sie die Verhandlung empfunden?
70 Schiedsrichterkollegen unterstützten mich im Zuschauerraum. Diese Solidarität tat gut. Trotzdem hatte ich Angst, den Täter zu sehen. Die Strafe für ihn finde ich richtig. Der Verein konnte wenig dafür, andererseits musste mit dem Punktabzug ein Zeichen gesetzt werden. Die Entschuldigung von Murat T. nehme ich nicht an. Er schrieb mir drei Tage später eine Mail. Da stand dasselbe drin. Es überzeugt mich nicht.
Warum nicht?
Er will sich nach einem Trauerfall betrunken und dann die Tat begangen haben. Ich finde: Wer nicht mehr Herr seiner Sinne ist, kann nicht so gezielt schlagen und treten. Ich vergebe ihm nicht. Wenn die Strafanzeige und die Zivilrechtsklage auf Schmerzensgeld bald zum Ende kommt, wäre schon viel gewonnen. Er soll sich seiner Verantwortung stellen. Ich will mit der Sache abschließen.
Die Gewalttat gegen Sie war der Auftakt zu einer Welle von Ausschreitungen gegen Schiedsrichter. Ihre Meinung dazu?
Der Respekt vor uns Amateurfußball-Schiedsrichtern ist unheimlich niedrig. Es wird wahnsinnig viel gemeckert auf den Plätzen und aus meiner Sicht gibt es mehr tätliche Übergriffe als früher. Deshalb war der offene Brief der Schiedsrichter gegen Gewalt sehr wichtig.*
Was kann außer Appellen getan werden?
Einen Ordnungsdienst, der das Schiedsrichtergespann vom Feld begleitet und sofort bei Gefahr im Verzug eingreift, würde ich begrüßen. Wenn ich jemanden aufs Feld laufen sehe, werde ich künftig viel Abstand halten. Auf dem Feld tragen Spieler und Trainer weiterhin die Verantwortung für Deeskalation.
Sie haben bereits einmal wieder gepfiffen – ausgerechnet in Bramfeld. Warum?
Das war mein spezieller Wunsch. Ich wollte als Schiedsrichter zurück an den Ort, wo alles passiert ist, um ein Gefühl dafür zu kriegen, dass alles okay ist. Das Spiel lief gut.
Wie haben Sie sich als Mensch durch die Tat verändert?
Ich bin ruhiger und vorsichtiger geworden. Und ich bin aus dem Tal wieder herausgekommen. Daraus kann ich lernen und daran kann ich wachsen.
Haben Sie ein Karriereziel?
Ich möchte Oberliga-Schiedsrichter werden und in der Regionalliga an der Linie stehen. Bald geht es wieder los. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon.
* Am 22. September wandten sich die Hamburger Schiedsrichter mit einem offenen Brief gegen Gewalt an alle Verantwortlichen und Fans im Hamburger Amateurfußball
Interview: Mirko Schneider
Foto: kbs-picture.de/Karl-Heint Meincke