Der Flugplatz. Unendliche Weiten. Dies sind die Abenteuer eines Segelflugvereins im Bergedorfer Stadtteil Lohbrügge. Die Mitglieder des HAC Boberg dringen bei der Ausübung ihres Hobbys in Galaxien vor, die nie ein Mensch zuvor … okay, so weit geht es nicht. Doch eine Stimmung von Pioniergeist und Vorfreude weht an diesem Mittwochmorgen über den Flugplatz des Vereins im Weidemoor 21.
Ein Mitglied startet zu einem seiner ersten Segelflüge. Nach langem Anlauf erhebt sich das Segelflugzeug fast senkrecht von der Piste in die Lüfte. Auf circa 450 Metern Höhe wechselt es in die Waagerechte. Dann fällt etwas von ihm herunter. „Nun schwebt es dahin“, sagt Henry Lübberstedt (57) beim Blick auf das majestätisch über das Feld gleitende Flugzeug. „Dieses Gefühl da drinnen ist unbezahlbar.“ Lübberstedt weiß, wovon er redet. Der Pressereferent des HAC Boberg ist selbst aktiver Segelflieger.
Das Wichtigste beim Segelfliegen ist die Zielstrebigkeit
Segelfliegerin Sharon Köhler
Nur: Wie hat das funktioniert? „Das Segelflugzeug ist per Nylonseil mit einer 1200 Meter entfernten Winde verbunden. Gibt der Windenfahrer Gas, beschleunigt das sich schnell Richtung Winde bewegende Seil das Flugzeug und zieht es in die Luft. Steht das Seil schließlich im rechten Winkel zur Winde, wird es ausgeklinkt“, erklärt Lübberstedt. Aber wieso kommt das ohne Motor in der Luft schwebende Segelflugzeug nicht gleich wieder runter? „Das liegt an der Thermik. Das ist warme, vom Boden aufsteigende Luft, die wärmer ist als die Umgebungsluft. Grundsätzlich bewegt sich ein Segelflugzeug auf der Luftmasse. Bei guter Thermik kann es auf der Luftmasse die Energie wesentlich länger abgleiten.“ Die Geschwindigkeit, so Lübberstedt, wird dabei über den Steuerknüppel geregelt. Zieht der Pilot die Nase hoch, wird das Flugzeug langsamer. Drückt er sie runter, wird es schneller, verliert aber etwas an Höhe. „Als Segelflieger“, sagt Lübberstedt, „ist das energieeffiziente Fliegen das A und O. Dann wirst du belohnt.“
Ein zeitintensives Hobby
Sein schönstes Erlebnis war der gemeinsame Flug mit einem Adlerpärchen nahe der Elbe. An den Adlern konnte Lübberstedt sich sogar orientieren, da diese tierischen Flugkünstler zum Gleiten ebenfalls die beste Thermik suchen. „Ich saß in meinem kleinen Cockpit. Die Adler schauten mich neugierig an. Ich schaute neugierig zurück. Und ich dachte, wie wunderbar es ist, sich in meinem Alter noch eine völlig neue Welt zu erschließen.“
Dieses Gefühl, von April bis Oktober in den Lüften eins mit der Natur zu sein und etwas völlig Neues zu erleben, fasziniert viele der 300 Mitglieder. So wie Maria Hoffmann (66) und Sharon Köhler (17). Hoffmann befand sich lange Zeit selbst in ihrem Beruf als Stewardess in den Lüften, bevor sie im September 2022 in den HAC Boberg eintrat. Köhlers Eltern sind begeistert vom Fliegen. Sie wuchs quasi auf dem Flugplatz auf. „Dort oben ist es so schön ruhig. Besonders schön finde ich Flüge in den Sonnenuntergang“, schwärmt Köhler, die bereits mit 14 Jahren begann. Hoffmann wiederum war begeistert „vom Blick auf Hamburg, als wir in einem meiner ersten Gastflüge ganz nahe an die Stadt herangeflogen sind“.
Köhler und Hoffmann stehen dabei sinnbildlich für die Mitgliederstruktur des Clubs. Die meisten Pilotinnen und Piloten befinden sich entweder noch in Schule, Ausbildung und Studium – oder sie sind jenseits der 50. Der Grund: Segelfliegen ist eines der zeitintensivsten Hobbys, dass es gibt. In der mittleren Lebensphase, in der die Familienplanung und die berufliche Karriere oft im Mittelpunkt stehen, finden viele Segelflieger kaum noch Zeit für ihr Hobby. Dieses fordert unter anderem deshalb so viel Zeit, weil ein Fehler in der Luft schlimme Folgen haben kann. Daher wird jedes Mitglied im Verein sehr intensiv betreut. Viele Stunden Theorie müssen gepaukt, viel Wissen über das Segelfliegen verinnerlicht und viele Gastflüge absolviert werden, um selbst fliegen zu dürfen. „Ich war ein halbes Jahr jeden Samstag von 9 bis 13 Uhr hier und habe die Theorie gelernt“, sagt Hoffmann. „Aber der Verein hat 30 Fluglehrer. Es ist immer jemand für einen da. Das ist klasse.“ Köhler ergänzt: „Das Wichtigste beim Segelfliegen ist die Zielstrebigkeit.“
Es braucht Geduld fürs Segelfliegen
Wobei diese Zielstrebigkeit bezüglich der eigenen Flüge noch längst nicht alles ist. Um ein Segelflugzeug in die Luft zu bekommen, sind für einen ordnungsgemäßen Start fünf Leute notwendig, die das Flugzeug perfekt vorbereiten und den Start sicher koordinieren. Die Flugzeuge – insgesamt 14 (davon elf Segelflieger) – müssen zudem morgens aus der Halle geholt und abends wieder dorthin verfrachtet werden. Auch die Wetterlagen spielen eine Rolle.
Es macht mir heute noch genau so viel Freude wie am ersten Tag
Segelflieger Marcel Rast
„Wer diese Sportart ausübt, der muss Geduld haben und warten können. Und er muss mit anpacken wollen“, sagt Patrick Kharadi (53), Vorstandsmitglied und Ausbildungsleiter im HAC Boberg. „Segelfliegen ist ein sehr mannschaftsorientierter Sport. Manchmal verbringst du den ganzen Tag auf dem Flugplatz.“ Kharadi ist eines von drei Mitgliedern, die im vergangenen Jahr für Aufsehen sorgten. In der Bundesliga holte er für den HAC Boberg gemeinsam mit Rolf Hilgert und Sebastian Huhmann den Titel Deutsche Meisterschaft im Segelstreckenflug. Gemessen werden in diesem dezentralen Wettbewerb die weitesten Flüge. „Die größte Leistung hat hier Sebastian erbracht. Er ist 1008 Kilometer weit geflogen. Bis nach Danzig in Polen“, sagt Kharadi.
Genuss in der Luft durch Arbeit am Boden
Doch ist das Segelfliegen nicht eigentlich ein sehr teures Hobby? Die gesamten Kosten für den circa zwei Jahre dauernden Erwerb eines Flugscheins mit Aufnahmegebühr, Vereinsbeiträgen sowie Start- und Fluggebühren können sich innerhalb von zwei Jahren immerhin auf bis zu 3000 Euro belaufen. Doch auch hier hat der HAC Boberg ein Modell gefunden, um das Segelfliegen möglichst für alle Menschen zugänglich zu machen. Durch die Mitarbeit in der Werkstatt – beispielsweise bei der Wartung der Flugzeuge im Winter – können die Mitglieder ebenso Punkte erzielen wie durch ihren Einsatz bei Instandhaltungsmaßnahmen auf dem Flugplatz. Diese Punkte werden ihnen auf die Gebühren angerechnet. „Ich habe in meiner Jugend viel auf dem Flugplatz mitgearbeitet, die Gemeinschaft erlebt und dabei viel gelernt“, unterstreicht Vorstandsmitglied Marcel Rast (29) die weiteren Vorzüge dieses Modells neben der Kostendämpfung.
Wie Sharon Köhler hat Rast mit 14 Jahren angefangen. Er strahlt heute noch bei seiner Erzählung vom Flug mit einem Freund in den französischen Alpen. Wenn Rast, der in einem Ingenieurbüro arbeitet, bald beruflich so richtig durchstartet, wir es allerdings schwierig für ihn, wie bislang bis zu zwei Tage in der Woche auf dem Flugplatz zu verbringen. Doch er will einen Weg für sich finden, eine lange Pause zu vermeiden. Denn: „Ich fliege seit 15 Jahren. Es macht mir heute noch genau so viel Freude wie am ersten Tag.“
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 06/2023 erschienen.
Noch mehr Aussicht gefällig?
Es gibt viele Möglichkeiten Hamburg von oben zu entdecken.