„Rollstuhlfahren fühlte sich für mich wie Verlieren an. Doch dann wurde mein Rollstuhl zu meinem besten Freund“ erzählt der zehnjährige Rasmus Ihnen, der sowohl im Alltag als auch in seiner Freizeit am Rad dreht. Und das im absolut positiven Sinne. Zu beobachten ist dies unter anderem auf seinem Instagram-Account „Rasmus rockt“. Dort zeigt der junge Rollstuhlfahrer tolle Tricks, befährt unebenes Gelände oder macht auf Autos aufmerksam, die auf dem Gehweg parken und ihm und weiteren Rollstuhlfahrenden damit den Weg versperren. Die Begeisterung, die Rasmus inzwischen verspürt, verdankt er Youtube-Videos von Rollstuhlfahrenden wie Aaron Fotheringham, einem US-Amerikaner, der seinen ganz eigenen Sport erfunden hat: WCMX, Wheelchair-Motorcross.
Adaptiert vom Skateboarding und BMX (Bicycle Motorcross), werden mit dem Rollstuhl die unterschiedlichsten Tricks auf Rampen durchgeführt. Diese Sportart hat dank der Videoplattform Youtube den Weg nach Deutschland gefunden und wird seit zehn Jahren auch in Hamburg praktiziert. Das gemeinnützige Hamburger Projekt Sit’n’Skate, das zur Supr Sports gGmbH gehört, möchte die Gesellschaft inklusiver gestalten und die vorherrschenden Vorurteile zerstören. Bei regelmäßigen Rollstuhl-Skate-Treffen lernen alle Interessierten den Rollstuhl besser kennen. Dass dieser spätestens nach den ersten paar Minuten von einem Fortbewegungsmittel zu einem eindrucksvollen Sportgerät wird, spürte auch Rasmus schnell. Gemeinsam mit seiner Mutter Miriam Ihnen war er als Fünfjähriger bei einem der Sit’n’Skate-Treffen dabei und es war Liebe auf den ersten Blick. Seitdem ist Skate-Rollstuhlfahren sein Lieblingssport.
So entstand die Initiative Sit’n’Skate
Genau solche Aha-Erlebnisse möchten Lisa und David Lebuser, die Sit’n’Skate gegründet haben, schaffen. Denn auch David Lebuser, der in Hamburg lebt und seit 15 Jahren durch einen Unfall querschnittsgelähmt und somit auf einen Rollstuhl angewiesen ist, merkte durch Reha-Sport und seine ersten Versuche im Skatepark, dass er sich durch nichts ausbremsen lassen muss. Schon drei Jahre nach seinem Unfall nahm er 2012 an seinem ersten WCMX-Wettbewerb in den USA teil. „Diese internationalen Treffen sind für mich persönlich wichtig für den Austausch, es geht mir nicht ums Gewinnen. Dort treffe ich meine Freunde, wir helfen uns gegenseitig und inspirieren uns. Nach meinem ersten Besuch in den USA wusste ich, dass wir so eine Community auch in Deutschland brauchen.“ So entstand Sit’n’Skate.
Zu Beginn lernen die Kinder, wie man den Rollstuhl in den Alltag integriert. Denn auch ohne sportlichen Aspekt ist das Fahren eines Rollstuhls hartes Training. Hier ein zu hoher Bordstein, dort eine Steigung – überall lauern Herausforderungen und Hindernisse. Die richtige Geschwindigkeit, das Bremsen, die Kontrolle behalten, all das ist wichtig, um sich alleine und selbstständig im Alltag fortbewegen zu können. Ein weiterer Aspekt, der Miriam Ihnen nach ihren ersten Besuchen im Gedächtnis geblieben ist: „Rasmus kann etwas, was andere toll finden. Das ist für sein Selbstbewusstsein super wichtig gewesen. Auch bei den Eltern kann sich ein Knoten lösen. Wer vorher zu ängstlich war und sein Kind im Rollstuhl vor sich hergeschoben hat, bekommt so Vertrauen in das Kind und dessen Fahrfähigkeiten und kann besser loslassen.“
Rollstuhl-Skaten gegen Vorurteile
Der Leitgedanke des Vereins – „Destroying Stereotypes“ – impliziert noch etwas anderes. „Wir zeigen, dass man mit dem Rollstuhl deutlich mehr machen kann und behinderte Menschen nicht hilflos oder gar zu bemitleiden sind. Sie sind individuell und bunt, eben wie alle anderen Menschen auch“, erzählt David Lebuser. Das gemeinsame Skaten mit dem Rollstuhl hilft damit nicht nur den Rollstuhlfahrenden, sondern baut auch Vorurteile in der Gesellschaft ab. Menschen, die nicht auf den Rollstuhl angewiesen sind, können ebenfalls lernen, wie viel Spaß es macht, Rampen zu befahren und kleine Tricks zu üben. Bei inklusiven Trainings nehmen auch mal Miriam Ihnen oder Rasmus’ kleiner Bruder im Rollstuhl Platz.
Inklusive Skateparks in Hamburg stehen noch am Anfang
Der Skatepark ist für David Lebuser eine gute Metapher für die Gesellschaft. Seit jeher herrschen dort Konflikte zwischen unterschiedlichen Menschen, die Skateboard, BMX und seit Kurzem auch Stuntscooter fahren. Gleichwohl ist der Skatepark ein niedrigschwelliger Treffpunkt, kostenfrei, erreichbar, man teilt sich eine Fläche, kann sich schnell vernetzen. Das macht diesen Ort so wichtig.
Doch wie steht es eigentlich um die inklusiven Skateparks in Hamburg? „Bisher gab es in Hamburg keinen astrein für Rollstuhlfahrende geplanten Park. Für die Parks, etwa in Wilhelmsburg oder an der Kellinghusenstraße, wurde zwar an uns gedacht, doch wir wurden nicht aktiv mit eingebunden“, berichtet David Lebuser. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass es keine barrierefreien Toiletten gibt, die Rampen zu steil gebaut sind oder Griffe fehlen, an denen sich die Rollstuhlfahrenden hochziehen oder festhalten können. Doch die Sichtbarkeit der Rollstuhlskaterinnen und -skater wird dank des Vereins Skateboard e. V. und Aktivistinnen und Aktivisten wie David Lebuser größer. „In der Lenzsiedlung in Eimsbüttel ist der erste inklusive Skatepark entstanden, bei dem wir aktiv mitgestalten durften. Es werden noch einige mehr in Hamburg dazukommen, wir sind auf einem guten Weg“, freut sich David Lebuser.
Fragt man ihn, was seine Visionen in 30 Jahren sind, kann er einige nennen. „Die Rollstuhlfahrenden müssen sich nicht mehr erklären, nicht mehr kämpfen, um mitmachen zu können. Die Gesellschaft ist divers, die Öffentlichkeit barrierefrei. Spielplätze, Parks, alles sollte nicht mehr trennend, sondern vereinend gestaltet werden.“ Auch Rasmus, so verrät es seine Mutter Miriam Ihnen, schaut gerne in die Zukunft. Wenn er sich mutig in die Halfpipe begibt, entscheidet er selbst, ob ein Weg für ihn geeignet ist oder nicht. So verwundert es nicht, dass sein Berufswunsch der des Bundeskanzlers ist. In der Gegenwart treffen sich David Lebuser, Rasmus Ihnen und viele andere aber erst mal weiterhin am ersten Samstag im Monat ab 13 Uhr im Ackerpoolco, dem Haus der Jugend in Eidelstedt, um in der kleinen Skatehalle Hindernisse zu überwinden!
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG Divers(c)ity 2023 erschienen.