Simone Schneider und Thorsten Wegner betreiben den Pure-Soul-Recordshop in der Nähe des Großneumarktes. Das Viertel nennen sie ihr „Dorf in der Stadt“ und sie erzählen gerne Geschichten über Plattensammler und Gardinenkneipen
Stadtteil-Spezial: Neustadt
SZENE HAMBURG: Ihr kauft und verkauft gebrauchte Platten: Vintageware und Raritäten. Wie kommt ihr daran?
Thorsten Wegner: Wir reisen seit Jahren in die USA, um Platten zu kaufen. Da fährt man in zwei Wochen 5.000 Kilometer. Das Gros unseres Sortiments sind amerikanische Pressungen: Rhythm and Blues, Soul, Jazz. Auch Leute aus dem Viertel bringen uns Sachen. Ein älterer Herr zog vor zwei Jahren in die Nachbarschaft. Er wollte einige Platten loswerden und brachte richtig interessantes Material vorbei. Er war früher Werbefilmregisseur und hatte Kontakt zu Ennio Morricone und John Barry. Sogar eine Rodriguez-Platte war dabei! Die habe ich erst vor ein paar Tagen verkauft. Hier wohnen schon interessante Leute …
Den Laden gibt es seit vier Jahren. Wie kam es dazu?
Simone Wegner: Wir haben vorher über unsere Website verkauft.
Thorsten: Mit der Zeit wünschten wir uns aber mehr Struktur und wollten nicht mehr zu Hause arbeiten.
Simone: Und wir wollten mit den Leuten sprechen, die Platten kaufen. Wir haben nicht woanders nach einem Ladengeschäft gesucht. Uns war klar, dass wir in dem Viertel bleiben, in dem wir auch schon lange wohnen.
Thorsten: Die kurzen Wege sind toll. Unsere Kinder gehen drüben zur Schule. Wir können fast ins Klassenzimmer gucken.
Woran merkt ihr, dass die Neustadt beliebter wird?
Thorsten: Die Bewohnerstruktur hat sich verändert. Hier leben mehr junge Familien. Heute wollen sie in der Innenstadt bleiben. Unsere Elterngeneration ist damals lieber aufs Land gezogen.
Simone: Man merkt das auch an den Läden. Ganz früher war das hier ein gut besuchtes Kneipenviertel. In den frühen 2000ern kamen dann nicht mehr viele Leute zum Feiern in die Neustadt. Die Kneipen wurden geschlossen.
Thorsten: Es gab zum Beispiel den „Schmelztiegel“ in der Wexstraße. Der hat sich nie wirklich erneuert. Bluesrock-Läden wie dieser haben in den 70er-Jahren funktioniert, waren aber irgendwann nicht mehr gefragt. Parallel entwickelten sich die Bars auf St. Pauli und in der Schanze. Apropos: Wir haben jetzt schon zweimal nebenan in der neuen Bar „Wald“ am Großneumarkt aufgelegt. Ich war baff, wie viele junge Leute wieder im Viertel ausgehen. Gardinen-Kneipen wie die Kurze Ecke werden im Gegenzug gerade dichtgemacht. Auch die Räume unseres Plattenladens haben viel Bewegung hinter sich. Hier waren unter anderem ein Croque-Laden, ein SPD-Parteibüro und eine Eisdiele.
Was macht den Stadtteil heute aus?
Simone: Das Viertel um den Großneumarkt ist ein kleines Dorf in der Stadt. An vielen Tagen müssen wir gar nicht hier raus.
Thorsten: Es gibt Cafés und den Wochenmarkt. Heute hat man ein richtiges Nachbarschaftsgefühl. Man trifft Leute auf der Straße, zu denen man einen Draht hat. Und das Viertel bietet viel Lebensqualität, es ist verhältnismäßig beschaulich, wenn man beispielsweise aus der Schanze kommt.
Und nicht so laut.
Simone: Dort, wo wir wohnen, in der Neustädter Straße, kann es auch anders aussehen. Da ist das Pik As (Anm. d. Red.: Eine Übernachtungsstätte für obdachlose Männer aus ganz Hamburg).
Thorsten: Es gab dort immer mal Probleme mit Bewohnern aber die Einrichtung gehört nun einmal zum Stadtteil dazu.
Simone: Der Quartiersmanager hat dann gut vermittelt.
Die Neustadt ist riesig. Zu ihr gehören die Elbpromenade, das Portugiesenviertel, die Ludwig-Erhard-Straße, die Galerien auf der Fleetinsel, das Gängeviertel, der Gänsemarkt und die Binnenalster. Ist das gefühlt alles Teil eures Viertels?
Simone: Unsere Nachbarschaft um den Großneumarkt ist ein eigenes Viertel im Stadtteil und dort bewegen wir uns.
Thorsten: Die andere Seite der Ludwig-Erhard-Straße frequentieren wir kaum. Da wirkt die viel befahrene Straße wie eine Grenze.
Wo verbringt ihr im Viertel Zeit?
Simone: Auf dem Wochenmarkt. Und das Hej Papa ist toll zum Essengehen. Wir sind auch gerne bei unserem Nachbarn im Mococo.
Thorsten: Der türkische Inhaber serviert guten portugiesischen Kaffee.
Simone: Und die neue Bar „Wald“ ist wie gesagt super. Im Sommer sitzen wir gerne vorm Thämers.
Thorsten: Der Inhaber der Galerie Feinkunst Krüger ist ein alter Freund von mir. Den könnten wir eigentlich mal fragen, ob wir da Musik machen können!
Er ist noch nicht lange im Viertel, oder?
Thorsten: Die Galerie war früher in der Ditmar-Koel-Straße und eröffnete hier fast zeitgleich mit unserem Plattenladen.
Simone: Das war die Zeit, in der öfter Läden frei wurden.
Thorsten: Jetzt wird Leerstand schnell vermietet. Hier auf der Ecke gab es die Absturzkneipe Blauer Peter II. Ich hab damals gesagt: Wenn das Ding vermietet wird, dann wissen wir, dass das Viertel in ist. Und siehe da: Nach intensiven Renovierungsarbeiten gibt es im Le Golden Igel nun einmal die Woche gute Burger. So wird es auch bei der leer stehenden Kurzen Ecke sein. Die neuen Mieter müssen aber wahrscheinlich die Wände abtragen, weil da dreißig Jahre Nikotin drin sind.
Was fehlt der Neustadt?
Thorsten: Weiterführende Schulen sind ein Thema. Und es wäre schön, wenn der Spielplatz nebenan nicht nur von Junkies benutzt würde.
Simone: Ich wünsche mir, dass es noch mehr Läden gibt, die abends geöffnet sind, nicht nur mittags. Und das weiterhin individuelle Konzepte Raum finden. Und es gibt jetzt genug Galerien!
Welcher Soundtrack passt zu einem Spaziergang durch euer Viertel?
Simone: Auf jeden Fall Jazz aus den 20er-Jahren. Vielleicht, weil es heute so grau draußen ist.
Thorsten: Hamburg war früher eine Jazzstadt. Ich habe neulich alte Schellack-Platten aus dem Nachlass eines Ehepaares gekauft. Die haben nach dem Krieg in den 50ern beim NWDR eine Radiosendung gemacht und Interviews mit Größen wie Oscar Peterson und Ella Fitzgerald geführt. Damals gab es eine Jazzszene, die sich in kleinen Lokalen traf, auch hier in der Neustadt. Und es gab viele Musikläden im Viertel, wie den Fachhandel in der Wexstraße 21. Vielleicht stehen wir in dieser Tradition.
Text & Foto: Lena Frommeyer
Pure Soul Records
Kohlhöfen 17 (Neustadt)
Telefon 55 89 52 77
Di-Fr 12–19, Sa 11–18 Uhr
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