Graphic Novels: Warum Hamburg für Comic-Zeichner the place to be ist? Zwei schreibende Illustratoren aus unserer Hansesadt im Visier
Text: Maike Schade
Comic ist wieder cool und das Genre blüht: Schon längst stehen die Bildergeschichten (neudeutsch: Graphic Novels) nicht mehr nur in der Kinderbuchabteilung. Heute werden ganze Romane in Bildern erzählt, ja sogar Sachbücher. So erschienen gerade zwei Graphic Novels über die Atomkatastrophen in Fukushima („Reaktor 1F“ von Kazuto Tatsuta) und Tschernobyl („Rückkehr ins Niemandsland“ von Natacha Bustos und Franciso Sánchez).
Auch wenn in Deutschland der Comic noch lange nicht den Stellenwert einnimmt, den er beispielsweise in Frankreich, Belgien oder Japan innehat, brummt hier vor allem in Hamburg die Szene: Wer in Sachen Comic was werden will, für den ist die Hansestadt the place to be.
Das sagt zumindest Calle Claus – und der war Mitte der 90er Pionier-Student für Illustrationsdesign an der HAW. „Damals war das noch die Fachhochschule und Comics etwas, das eher belächelt wurde. Ich musste quasi den Professoren noch erklären, wie ein Comic funktioniert“, sagt der heute 45-Jährige.
Inzwischen sieht das ganz anders aus: Graphic Novels gelten als anerkannte Kunstform mit ausgebildeten Wissenschaftlern. So begründete Anke Feuchtenberger, Professorin an der HAW, erst den international hervorragenden Ruf der Hochschule. Dann wirkte sie stilprägend für eine ganze Generation von Comiczeichnern. Die daraus erwachsene lokale Szene ist groß und bunt. Wie bunt, zeigen sehr unterschiedliche Comics zweier Hamburger Kollektive, die nun druckfrisch auf den Markt gekommen sind.
Hamburg im Comic: Große Freiheit
Scheiße gelaufen für Wolfgang. Bei einer Sauftour hat sich der Marinesoldat am Bein verletzt, jetzt wird er kurzerhand als untauglich entlassen. Hätte er seinen Schwanz in der Hose gelassen, wie er selber sagt, könnte er jetzt nach Hause zu Frau und Kind. Hat er aber nicht, und nun weiß er nicht, wohin. Doch da ist ja Kiezboxer „Neger Toni“, der nach einer Schlägerei ebenfalls im Hamburger Bundeswehrkrankenhaus gelandet ist. Wolfgangs neue Heimat wird der Kiez, ein Zuhälter ersetzt die Familie.
„Große Freiheit #1“ ist das erste von fünf Kapiteln über das Kiezmilieu in den 70ern und 80ern. Irgendwann sollen alle Teile mal in einem eigenen Buch erscheinen, falls sich dafür ein Verlag findet, erzählt Zeichner Fabian Stoltz. Den vorliegenden ersten Teil produzierte das Comic-Kollektiv selber auf einem Risographie-Drucker. Schwarz, Blau, ein bisschen Rot: Mehr braucht’s auch nicht! Sieht super aus, passt stilistisch perfekt und die realistisch anmutenden Zeichnungen von Fabian Stoltz wirken auch ohne viel Farbe.
Die Idee zum Comic hatte Michael Schmid. Zusammen mit Anja Kasten textete er die (stellenweise leider etwas hölzern wirkenden) Dialoge. Laut Illustrator Stoltz habe Schmid folgende Geschichte inspiriert: „St.-Pauli-Mörder“ Werner „Mucki“ Pinzner erschoss 1986 erst einen Staatsanwalt, dann seine Frau und schließlich sich selbst. Damit sorgte er für einen Politskandal in Hamburg – und für diesen großartigen Comic. Ob Protagonist Wolfgang auch noch zum Killer wird? „Große Freiheit #2“ soll bald im Kiosk stehen.
Hamburg im Comic: Dorle
Boah, ist die Frau ätzend! Kotz, würg, spotz! – um es im Comic-Style zu sagen. Die Rede ist von Dorle, Protagonistin in Calle Claus‘ und Olli Ferreiras gleichnamiger Bildgeschichte. Anfang 20, auf dem Papier Studentin, ist Dorle ein grauenhaft verwöhntes Einzelkind reicher Othmarscher Eltern, der blonde Micropony wie ein Brett vor dem Kopf. Selbstsüchtig, lebensunfähig und absolut unsympathisch. Eigentlich. Denn irgendwie muss man Dorle in ihrem gnadenlosen Egoismus einfach mögen. Wenn auch nur, weil ihre kaputte Mutter eigentlich noch viel schlimmer ist.
Böse, böse, wie Claus und Ferreira mit lockerem Strich und pointierten Dialogen das Seelenleben der Berufstochter sezieren. Böse und vor allem: unterhaltsam. Auf 140 Seiten zeigen ihre knallbunten Bilder, was passieren kann, wenn ein Einzelkind von den Eltern alles bekommt – außer Liebe. Halt! Stopp! Brems! Klingt recht schwer verdaulich. Ist aber tatsächlich urkomisch. Mit schwärzestem Humor skizzieren die Beiden eine Heranwachsende, die meist ziemlich breit durchs Leben stolpert und „von ihren adipösen Kolleginnen aus Bodygründen gemobbt“ wird, im Floating-Tank der Therapeutin nach sich selber sucht, von ihrer Mutter zu einer traumatischen Paris-Reise gezwungen und schließlich gar in einen Mordfall verwickelt wird. Juchz! Freu! Amüsier.
„Große Freiheit“ von Fabian Stoltz, Anja Kasten und Michael Schmid, 7 Euro. Erhältlich im St. Pauli Tourist Office, bei Strips & Stories und beim Druckdealer
„Dorle“ von Calle Claus und Olli Ferreira, Zwerchfell Verlag, 144 Seiten, 16,90 Euro