Tagein, tagaus wirbeln knapp zwei Millionen Menschen durch Hamburg. Begleitet von hvv switch fischen wir sie für einen Moment aus ihrem Alltag und lauschen ihren Geschichten. Diese Woche sind wir Dieter begegnet.
Protokoll: Max Nölke
„Ich erzähl mal eine Geschichte, ob Sie es glauben oder nicht: Vor zwei Jahren waren da zwei junge Kerle in der S-Bahn nach Blankenese. Die haben ein älteres Ehepaar angemacht. Ich bin dazwischen gegangen, da meinte einer von denen: „Halt’s Maul, alter Mann“. Das habe ich nicht mit mir machen lassen, also hat „der alte Mann“ gesagt: „Pass auf, mein Freund. Nächste Station steigen wir aus und dann zeig‘ ich dir, wie alt ich bin“. Darauf er: „Du kannst auch gleich was haben.“ Und: zack, habe ich ihm eine geknallt, da lag er flach.
Ich bin jetzt 86. Ich kann auch Pech haben in dem Alter, wenn ich an den Falschen gerate. In diesem Fall hatte ich es nicht. Später kam der Vater von dem Jungen sogar noch zu mir und hat mir Recht gegeben.
Ich habe keine Angst, vor nichts und niemand. 1953 habe ich mit Karate angefangen und bin ausgebildeter Selbstverteidiger. Denn früher brauchtest du solche Nehmerqualitäten. Ich war zehn, als der Krieg zu Ende war. Später sind mein Bruder und ich in einer Pflegefamilie großgeworden. Mittlerweile ist er tot. Durch all das bin ich hart und kernig geworden.
1957 bin ich nach Hamburg gekommen. Ich hätte es nicht ausgehalten, in einer Fabrik oder einem Büro zu sitzen, ich wollte zur See. Und stünde ich heute noch einmal vor der Entscheidung, ich würde sofort wieder zur See fahren. Wenn wir damals aus dem Hafen ausliefen, waren wir im Schnitt 18 Monate weg. Da war nicht viel mit Freundschaften und Kontakten. Auch meine erste Ehe ist an der Seefahrerei kaputt gegangen. Sie war nun mal mein Leben. Die See.
„Ich freue mich drauf, die Augen zu schließen“
Einmal bin ich von Board gegangen. Ich musste Reparaturarbeiten an Deck machen, weil ein Mast weggeknickt war. Den habe ich neu verschweißen wollen, bei Windstärke 12. Mein Chief sagte noch, ich soll mich anschnallen. Da meinte ich natürlich, das brauche ich nicht. Und zack, kam die erste Welle und ich war weg, über Board. Mitten im Atlantik. Aber wie man sieht, haben die mich wieder raufgeholt. Meine Güte, war ich ein sturer Hund. Aber diese Sturheit hat mich weit gebracht.
Nach 15 Jahren habe ich zum Chief auf der Rückfahrt von Indien gesagt: „Wenn wir in Hamburg sind, ist Schluss, ich habe keine Lust mehr“. Ich bin von Board gegangen und nicht wiedergekommen. Fortan habe ich 25 Jahre lang eine Abbruchfirma geleitet, wir haben Häuser und Wohnungen eingeschlagen. War auch nicht schlecht.
Mittlerweile bin ich nicht mehr ganz so stur. Meine Frau hat mich einigermaßen hingebogen. Wir sind jetzt seit 36 Jahren verheiratet, haben eine Tochter und acht Enkelkinder. Was mir heute bleibt, ist also vieles und gleichzeitig wenig. Ich habe mein Leben gelebt, habe immer das gemacht, worauf ich Lust hatte, eine vernünftige Familie gegründet. Aber was soll jetzt noch kommen? Es gibt keine offenen Wünsche mehr. Sie wollen es vielleicht nicht hören, aber ich freue mich darauf, die Augen zu schließen.“