Als Roger Willemsen kurz nach seinem 60. Geburtstag von seiner schweren Erkrankung erfuhr, beendete er abrupt die Arbeit an seinem aktuellen Buchprojekt. Es sollte „Wer wir waren“ heißen und eine Betrachtung unserer Gegenwart werden aus der Sicht jener zukünftigen Generation, die mit unseren Fehlern wird leben müssen. Das fertige Werk bleibt der Welt vorenthalten. Im Juli 2015 allerdings hält Willemsen eine gewohnt scharfzüngige Rede, in der er zentrale Motive seiner Arbeit aufgreift – und schenkt uns damit zumindest eine Ahnung von seinem Vorhaben.
In einer kleinformatigen Ausgabe hat der Fischer-Verlag diese Rede veröffentlicht. Willemsen-Kenner werden darin die zentralen Motive des leidenschaftlichen Zeitgenossen wiederfinden, allen voran sein beharrlicher Protest gegen eine medienbedingte Empfindsamkeitsverödung: „Wir ahnen vielleicht, dass wir künftig weniger mitfühlend (…) sein werden, doch nennen wir solche Annahmen ‚Kulturpessimismus‘ und entsorgen sie auf diesem Weg. Dabei ließe sich an so vielen oft banalen technischen Errungenschaften nachvollziehen, welche Bewusstseinsleistungen sie nach sich ziehen (…) Die Erfindung des Mobiltelefons hat das Bewusstsein neu formatiert, andere Simultanitäten ausgebildet. Die Flüchtigkeit der allgemeinen Wahrnehmung hat vielfach die Kontemplation des Betrachters ersetzt.“
„Wer wir waren“ ist ein melancholisches und zugleich flammendes Plädoyer – gegen die Zerstreuung und für die heute „angejahrt“ scheinenden „Verhaltensformen, die die künstlerische Hervorbringung ebenso wie die ideale Rezeption charakterisieren: Betrachten, Staunen, Versenken, Kontemplieren, Beeindrucken, Erschüttern.“ Es ist mehr als bedauerlich, dass wir das fertige Werk nie zu lesen bekommen werden – umso mehr ist es nun erforderlich, Willemsens Anregungen nicht im Sande verlaufen zu lassen.
/ UT
Roger Willemsen: „Wer wir waren. Zukunftsrede“, S. Fischer Verlag, 64 Seiten, 12 Euro
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