Faltenrock: loslassen & abhotten

Beim Faltenrock steht niemand still: Hamburgs Ü60-Party bringt jeden Monat Menschen zusammen, die sich auch im Alter ihrer jugendlichen Feierlust und Tanzlaune hingeben
Beim Faltenrock wird „die Feierei wird Work-out“, sagt Franziska Schillig (©Philipp Müller)

So langsam klettern die Temperaturen in den zweistelligen Bereich, die Vögel ölen noch mal kurz ihre Stimmchen und vereinzelt wagen sich auch schon die ersten Blumen aus der Erde. Während sich der Hamburger Frühling draußen auf leisen Pfoten anschleicht, hat er hier drin, in der Fabrique im Gängeviertel, längst Einzug gehalten und schwingt das Tanzbein. An jedem letzten Sonntag im Monat steigt hier Faltenrock, Hamburgs Ü60-Party, bei der sich alle feierwilligen Jahrgänge ab 1964 abwärts von 17 bis 21 Uhr zum ausgelassenen Stelldichein treffen. Alle folgen dabei dem gleichen Ziel: loslassen, abhotten, glücklich sein. Auch heute ist die Tanzfläche voll – und das seit 17 Uhr.

Stumm an die Decke glotzen, abgebrüht an der Wand lehnen, um sich höchstens mal zur Bar zu bewegen, war gestern. Verlegenheit und Unlust haben in der zweiten Jugend keine Chance. Sobald die ersten Gäste eintrudeln, gibt es kein Halten mehr. Gesichter strahlen im blauen Scheinwerferlicht, Arme fliegen durch die Luft: „Because I’m happy. Clap along if you feel like happiness is the truth“, tönt es aus den Boxen. Für ein paar Minuten wird Pharrell Williams’ Megahit „Happy“, der 2014 den gesamten Globus mit guter Laune angesteckt hatte, auch zum Soundtrack einer Generation, die noch mit Elvis, den Beatles oder den Rolling Stones groß wurde.

„Die Idee, eine Ü60-Party zu veranstalten, entstand schon vor ungefähr 14 Jahren“, erzählen Rita Kohel und Franziska Schillig, die Faltenrock damals – gemeinsam mit Kristina Sassenscheidt – ins Leben gerufen hatten. „Als wir unsere Eltern mal zu uns einladen wollten, mussten wir feststellen, dass es zwischen Techno, HipHop und Punk überhaupt kein Angebot für sie gibt. So wurde Faltenrock geboren: Das Gängeviertel sollte immer schon ein Freiraum für alle sein.“

Wo kommt man unter den Generationen denn sonst noch in Kontakt?

Rita Kohel

Faltenrock: Party ohne Barrieren und Hemmschwellen

Freiheit und Inklusion gehören hier nicht zu einem temporären Partykonzept, sondern werden ernst genommen und vorgelebt. „Uns ist es sehr wichtig“, erzählen die beiden Initiatorinnen, „dass auch wirklich überwiegend ältere Leute zum Faltenrock kommen. Wir wollen eine Wohlfühlatmosphäre schaffen, in der sich unsere Gäste ungestört ausleben können, ohne sich den Blicken von Teenagern oder jungen Erwachsenen ausgesetzt zu fühlen.“ Barrieren und Hemmschwellen werden hier auf allen Ebenen möglichst klein gehalten. Der Eintritt ist frei und die Getränke bezahlt man nach eigenem Ermessen. Die Chance, sich beim Auspowern auf dem Dancefloor mit Gleichgesinnten für ein paar Stunden jung zu fühlen, sollte jeder Person gegeben sein.

Damit ein solches Vorhaben aber überhaupt realisiert werden kann, braucht es eine Menge Leidenschaft und Einsatz. Mit Unterstützung des Vereins des Gängeviertels, durch den etwa die Raummiete wegfällt, stellen Rita Kohel und Franziska Schillig – unter Mithilfe von Freunden und Familie an der Bar – alles ehrenamtlich auf die Beine: ein großartiger Einsatz, der sich auszahlt. Faltenrock hat einen Riesenzulauf.

Kein Faltenrock ohne die Initiatorinnen Rita Kohel (links) und Franziska Schillig (rechts) (©Philipp Müller)

Jedes Mal feiern hier etwa 80 bis 100 Gäste ihr Leben. „Viele Ü60er lieben es noch immer, wild und ausgelassen zu tanzen – weswegen wir unbedingt keinen Nachmittagstee veranstalten wollten, sondern eine Party mit Rock-’n’-Roll-Charakter.“ Einige reisen dafür sogar aus Berlin, Kiel, Bremen oder Bielefeld an. Einerseits spricht das für Faltenrock, von dem es durch die Körber-Stiftung noch einen Ableger in Bergedorf gibt, signalisiert andererseits aber, dass der Bedarf an solchen Events bundesweit noch lange nicht gedeckt ist. Schon der allererste Faltenrock im Oktober 2010, damals noch in der Jupi Bar, zog unglaublich viele Leute an. Die Bar platzte aus allen Nähten und die Stimmung kochte irgendwann so sehr, dass einer der Gäste zum spontanen Dance-off aufrief, obwohl kaum mehr Platz zum Tanzen war. Aufgelegt hatte Rita Kohel damals selbst – mit den Single-Platten ihres Vaters. Ohnehin klingt vieles, was sie und Franziska Schillig erzählen, als berichteten sie von einer feuchtfröhlichen Familienfeier. „Auch für uns ist Faltenrock eine große Bereicherung. Einige der Gäste kennen wir seit über 14 Jahren. Wo kommt man unter den Generationen denn sonst noch in Kontakt? Es gibt nicht viele Begegnungsräume wie diesen hier. So lebendig. So energiegeladen. So mitreißend.“

Auf dem Parkett ist der Gehstock verschwunden

Auf der Tanzfläche ist nach wie vor richtig was los. Gerade noch strömte der Soul und Funk von James Browns „Sex Machine“ durch die Körper, jetzt grölen alle „Rama Lama Ding Dong“ quer durch den Raum, den Song von The Edles aus dem Jahr 1958, der aber erst in der Version von Rocky Sharpe & The Replays 1978 zu einem Retro-Rockabilly-Klassiker wurde. Es ist beeindruckend, wie viel Kraft und Ausgelassenheit beim Faltenrock in der Luft liegen. „Viele wollen hier auch einfach Energie rauslassen“, sagt Franziska Schillig. „Die Feierei wird zum Work-out.“ Eine Teilnehmerin kam vorhin noch mit Gehstock durch die Tür – doch auf dem Parkett ist er plötzlich verschwunden. Tanzbeine brauchen eben keine Gehhilfe: Selbst wenn der Körper im Alltag allmählich schwerfälliger wird – im Rausch der Endorphine folgt er anderen Gesetzen.

Viele wollen hier auch einfach Energie rauslassen

Franziska Schillig

Die Lebenslust im Saal steckt an. So sind über die Jahre viele Freundschaften unter den Gästen entstanden – und bei manchen auch mehr. Die Teenager der 60er-, 70er- und 80er-Jahre wissen eben immer noch, wie man feiert und erleben ihre zweite Jugend zum Teil auch mit den ganz großen Gefühlen. Aus den Begegnungen bei Faltenrock gingen etliche Liebespaare und mindestens drei Hochzeiten hervor. Franziska Schillig: „Dass wir eine Veranstaltung aufgezogen haben, die ungeahnte Lebensenergien in den Menschen weckt und sie dazu bringt, sich jung zu fühlen und sich zu verlieben, berührt uns selbst auch sehr und motiviert uns, weiterzumachen.“ Wenn sich also auch im nächsten Monat die Tür in der Fabrique zur Faltenrock-Party öffnet, kann er wieder aufs Neue beginnen: der innere Frühling.

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 03/2024 erschienen.

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