Das Bundesjugendballett sucht im Ernst Deutsch Theater nach den Wurzeln des modernen Tanzes
Text: Dagmar Ellen Fischer
Das ist kein Tanz-Abend! Nicht im Sinne, dass sich (nur) Tanzinteressierte von diesem jüngsten Werk John Neumeiers für das Bundesjugendballett locken lassen sollten. Es ist ein Abend über Hamburg, über die „Banalität des Bösen“ (wie Hannah Arendt die unmenschliche Organisation im NS-Staat so klug nannte) und letztlich eine sinnliche Choreografie übers (Über-)Leben: „Die Unsichtbaren“ führt das Publikum zurück in die 1920er- bis 1940er-Jahre und erinnert an Tänzer:innen und Choreograf:innen, die nach dem Ersten Weltkrieg für eine Revolution im Tanz sorgten – und damit für ein völlig neues Verständnis vom Körper. Viele von ihnen wurden nach 1933 ausgeschlossen, zur Flucht getrieben oder ermordet. An diesem Abend werden sie wieder sichtbar.
Dem Vergessen entrissen
„Wir wollen leben!“, schrieb die jüdische, niederländische Tänzerin Lin Jaldati 1944 in Auschwitz. Auszüge aus ihrem Text werden gesprochen – und sind schwer auszuhalten. Da hilft es, dass sich Worte mit getanzten Passagen die Waage halten, sinnliche Eindrücke auf verschiedenen Ebenen das Publikum berühren. „Le sacre du printemps“ von Igor Strawinsky bildet den musikalischen roten Faden, unterbrochen von Kompositionen aus jener Zeit, so den Comedian Harmonists und Erich Wolfgang Korngold. Mary Wigman, Protagonistin des neuen Tanzes und hier eindringlich verkörpert von Isabella Vértes-Schütter, hatte 1919 ihren Durchbruch im Hamburger Curio-Haus. Auch ihre Erinnerungen stehen im Raum sowie eine gespielte, fiktive Verhandlung über ihre Mitschuld – war sie Kollaborateurin oder Opfer? Unterschiedlichste Schicksale werden schlaglichtartig vorgestellt und somit dem Vergessen entrissen, mit Tanz, Text und Musik. Am Ende werden die Namen von Opfern verlesen, die aus religiösen oder politischen Gründen sowie wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden.
Die Unsichtbaren, bis zum 18. Juli (außer am 11. Juli) im Ernst Deutsch Theater