SZENE HAMBURG: Hila Limar, bevor Sie 2020 hauptamtliche geschäftsführende Vorstandsvorsitzende wurden, haben Sie sich viele Jahren ehrenamtlich für Visions for Children engagiert. Was waren ganz am Anfang des Engagements Ihre konkreten Beweggründe?
Hila Limar: Das Engagement war divers motiviert. Zum einen durch die eigene Fluchtbiografie und das Bewusstsein, dass Kinder hier in Deutschland privilegiert aufwachsen dürfen. Es gibt keinen Kriegszustand, alle haben die Möglichkeit auf Bildung, Selbstbestimmung und damit bestimmte Perspektiven. 2006, als ich angefangen habe, Architektur zu studieren, habe ich die Gründer von Visions for Children kennengelernt. Ich wollte damals irgendwo aktiv sein, wo ich eine Art von Direkthilfe leisten kann. Ich wollte kein Rädchen in einem großen Werk sein, sondern eine spürbare Wirksamkeit haben. Die habe ich bei Visions for Children gefunden. 2009 wurde ich bereits zur Vorsitzenden gewählt, damals noch im Ehrenamt.

Gibt es heute, hauptamtlich, so etwas wie einen Arbeitsalltag für Sie bei Visions for Children – oder ist jeder Tag anders?
Tatsächlich ist kein Tag wie der andere. Wir haben Phasen, da geht es mehr um Bürotätigkeiten, also Meetings, E-Mails, Sachen abarbeiten. Und dann gibt es Zeiten, in denen wir unterwegs sind, zum Beispiel auf Events, um unsere Vision zu kommunizieren und zu verbreiten, auch speziell über die Situationen in Afghanistan und Uganda aufzuklären. Und wir sind natürlich etwa einmal im Jahr direkt vor Ort in den Ländern, um Baustellen zu besichtigen und mit den lokalen Kolleg:innen ins Gespräch zu kommen. Somit gibt es keinen wirklichen Arbeitsalltag. Ein Beispiel noch: Heute Vormittag haben wir von einem Erdbeben in Afghanistan erfahren, was alles, was in meinem Kalender stand, erst mal verändert hat.
Wie haben Sie und Ihr Team darauf reagiert?
Wir haben uns schnell beraten, ob wir eine Nothilfe starten sollten, und mit den Kolleg:innen vor Ort gesprochen, welche Möglichkeiten es gibt, zu unterstützen. Solche Situationen, in denen wir ad hoc etwas tun müssen, gibt es nicht selten.
Etablierte Hilfsgröße: mittlerweile wenden sich Eltern direkt an die Organisation
Visions for Children ist in verschiedenen Orten in den angesprochenen Ländern aktiv. Wie stoßen Sie auf neue Projekte? Welche Recherche geht der Hilfe voraus?
Als wir angefangen haben, ging es vor allem über das eigene Netzwerk. Dadurch, dass wir bei Visions for Children gebürtige Afghan:innen sind, haben wir Verwandtschaft, Freund:innen und Bekannte vor Ort. So wurden uns Schüler:innen und Schulleiter:innen und deren Bedürfnisse bekannt. Wir haben natürlich geprüft, ob der Bedarf tatsächlich da ist, haben gecheckt, ob die Schulen bereits Unterstützung bekommen und wie motiviert Lehrer:innen und Eltern sind. Mittlerweile ist es so, dass unsere Organisation vor Ort bereits bekannt ist und sich Menschen direkt an uns wenden. Vor der aktuellen De-facto-Regierung in Afghanistan haben wir noch sehr viel enger mit dem Bildungsministerium und der Bildungsbehörde gearbeitet, die ein Schulverzeichnis haben und wissen, wo es Bedürfnisse gibt. Heute laufen diese Prozesse vor allem über lokale Partnerorganisationen.

Wir waren ein Freundeskreis, der Afghanistan verändern wollte
Hila Limar
Grundsätzliches Ziel von Visions for Children war, ist und bleibt: Bildungsqualität erhöhen. Das beinhaltet ganz Verschiedenes, etwa den Ausbau und die Ausstattung von Schulen, die Verbesserung von sanitären Anlagen, auch die Ernährung. Gibt es bestimmte Bereiche, die Sie immer wieder vor besondere Herausforderungen stellen?
Der Bedarf ist immer groß, und wir müssen uns bestimmte Kriterien setzen, nach denen wir agieren, damit es keine emotionale Entscheidung wird. Auch in Afghanistan gibt es Schulkomitees, Schulräte und Elternvertretungen, und wenn die schon sehr engagiert sind und mit ihren Mitteln versucht haben beziehungsweise versuchen, die Situationen zu verbessern, ist das für uns eine sehr gute Grundlage, aktiv zu werden und darauf aufzubauen. Wir sind nicht da, um von uns aus etwas zu verbessern, sondern um herauszufinden, was zu verbessern ist und das mit den Menschen vor Ort gemeinsam zu machen. Eine Herausforderung, die es aber immer gibt, sind die Jahreszeiten. Es gibt in Afghanistan sehr lange, sehr kalte Winter, und unsere Aufgabe ist es unter anderem, die Baustellen dort so gut abzusichern, dass sie auch gut überwintern können.
Sie und Ihr Team sind regelmäßig vor Ort, aber eben hauptsächlich in Hamburg. Die Distanz scheint unproblematisch zu sein …
… das stimmt, glücklicherweise gibt es die Möglichkeit, online miteinander zu kommunizieren, die Gegebenheiten dafür sind in Afghanistan grundsätzlich ähnlich, auch wenn dort die Elektrizität nicht so stabil ist, wie hier. Es kann sein, dass es Stromausfälle gibt, dann wechseln wir aufs Telefon.
Das Spendenverhalten hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert
Hila Limar
Bessere Lernvorraussetzungen: Freiluftunterricht für alle wird zu kleinen Klassen

Es laufen aktuell viele Projekte, viele sind aber auch erfolgreich abgeschlossen. Sicherlich waren alle Herzensangelegenheiten, aber vielleicht gibt es dennoch welche, an die Sie sich besonders gerne erinnern?
Schwierig, ich erinnere mich eigentlich an alle gerne. Das ist auch ein gutes Zeichen. Eine Schule in Kabul ist mir allerdings sehr in Erinnerung geblieben, weil sie die erste war, die ich auf meinen Reisen nach Afghanistan besucht habe. Es war das erste Mal außerhalb der Theorie, dass ich den Schulbetrieb direkt erlebt habe. Ich kam dorthin, und es war so laut! Ich dachte, es wäre gerade Pause, aber der Lärmpegel war deshalb so hoch, weil im Freien unterrichtet wurde. Tausende Schüler:innen wurden gleichzeitig draußen unterrichtet! Wir haben dann in zwei Bauphasen über einen Zeitraum von rund drei Jahren erst acht, dann noch mal zwölf Klassen gebaut. Den Wandel zu begleiten, die Schüler:innen, die Lehrer:innen immer besser kennenzulernen, das war schon eine besondere Erfahrung.
Um so etwas möglich zu machen, braucht Visions for Children Spenden. Die kommen sowohl von Privatpersonen, als auch von Unternehmen und Schulen. Gibt es Menschen, die Sie schon sehr lange und regelmäßig unterstützen?
Das Spendenverhalten hat sich in den vergangenen Jahren sehr verändert. Wir spüren, dass bei den Privatspender:innen die Möglichkeiten ebenso kleiner werden durch verschiedene Preissteigerungen, wie den harten Cut, den die Bundesregierung eingeleitet hat durch den sehr stark gekürzten Haushalt für 2025 und 2026. Das trifft uns und natürlich die Menschen vor Ort. Wir werden weniger Projekte umsetzen können. Und wenn ich zurückdenke: Ganz am Anfang war es unglaublich schwierig, überhaupt jemanden von uns zu überzeugen. Man muss sich das ja auch mal vorstellen: Wir waren ein Freundeskreis, der Afghanistan verändern wollte – das wurde nicht besonders ernst genommen, was ich auch nachvollziehen konnte. Die ersten Spender:innen, die wir hatten, waren Familie, Freund:innen, Kommiliton:innen – von denen immer noch einige Dauerspender sind, die monatlich ihren Beitrag leisten. Mit der Zeit sind mehr Spender:innen dazugekommen, die uns und unsere Vision verstanden haben und bis heute einen wichtigen Spender:innenstamm ausmachen.