SZENE HAMBURG: Kathrin Sachse, wie viel Zeit muss man pro Woche als Mentor oder Mentorin investieren?
Kathrin Sachse: Wir empfehlen acht bis zehn Stunden im Monat und – gerade zu Anfang – regelmäßige Treffen ein Mal in der Woche oder alle zwei Wochen, die man individuell verabredet.
Die Kinder werden in „Tandems“ mindestens ein Jahr begleitet. Wie lange war die längste Begleitung?
Über zehn Jahre. Viele Patenschaften enden mit der Volljährigkeit des Mentees. Wenn die 18 werden, treffen sich zwei Erwachsene. Da braucht es keinen Verein mehr. Die meisten haben sich bis dahin so angefreundet, dass sie sich privat treffen. Ich selbst bin auch Mentorin gewesen. Meine Mentee ist jetzt 22, wir haben immer noch Kontakt. Aber auch wenn eine Patenschaft nach einem Jahr endet, ist das vollkommen in Ordnung und für das Mentee eine positive Erfahrung.
Die Eignung zum Mentor wird durch ein vielstufiges Auswahlverfahren von uns geprüft
Zum Zeitpunkt der Gründung waren Sie Jugendrichterin. Hat sich Ihr Blick auf junge Menschen mit Problemen durch das Mentorenprogramm verändert?
Als ich mit dem Mentoring in Kontakt gekommen bin, habe ich gedacht: Mensch, das ist ein Weg, mit dem man junge Menschen erreichen kann, bevor etwas schief läuft. Das treibt mich an. Ich halte Mentoring nicht nur für ein hochwirksames Konzept – ich weiß, dass es wirksam ist. Man stellt jungen Menschen eine Begleitperson an die Seite, die ihnen freundschaftlich-positiv begegnet. Das macht einen enormen Unterschied im Leben.
Nach welchen Kriterien wählen Sie Mentoren und Mentorinnen aus?
Mit einem sehr aufwendigen vierstufigen Auswahlverfahren. Das beginnt mit einem polizeilichen Führungszeugnis. Dann nennt jeder drei Referenzpersonen aus Familie, Freundeskreis und beruflichem Umfeld. Mit allen dreien sprechen wir in einem Telefoninterview. Wir schauen: Wie ist jemand vernetzt, wie wird die Person im Umfeld wahrgenommen. Unser Kernstück ist ein 1,5-stündiges Interview. Zwei unserer Mentoring-Beraterinnen fahren in die Wohnung der Kandidatin oder des Kandidaten. Wir fragen die Eignung ab: Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Frustrationstoleranz. Weiter klären wir: Was sind ihre Interessen, womit verbringen sie gern ihre Zeit – schon mit Blick auf die spätere Zusammenstellung der Tandems. Zum Abschluss findet ein Gruppenworkshop statt. Da wird viel besprochen: Beziehungsdynamik Kind-Eltern-Mentor, die Entwicklungsstufen des Kindes, interkulturelle Aspekte. In der laufenden Patenschaft wird man von einer Mentoring-Beraterin als fester Ansprechpartnerin begleitet.
Wir brauchen immer Mentorinnen und Mentoren. Wir haben im Moment 121 Kinder, die warten. Davon sind 92 Jungs
Kathrin Sachse
Sie sprechen von Frustrationstoleranz. Kann der Mentorenjob auch mal belastend werden?
Oft können die Kinder zu Beginn der Patenschaft wenig eigene Ideen für Aktivitäten einbringen. Einfach, weil sie selbst noch nicht so viel erlebt haben. Darauf bereiten wir unsere Mentorinnen und Mentoren gut vor. Wir geben ganz viele Empfehlungen für kostenfreie Aktivitäten. Natürlich kann es auch belastend sein, weil man einen Einblick bekommt in Lebensverhältnisse, die nicht dem eigenen Umfeld entsprechen. Da gilt es, sich gesund abzugrenzen, um diese Rolle gut ausfüllen zu können. Hierbei stehen unsere Mentoring-Beraterinnen zur Seite.
Wir arbeiten gemeinsam daran, mehr Männer für die Rolle des Mentorenjobs zu begeistern
Wie ist der Frauen-Männer-Anteil?
Ungefähr ein Drittel Männer und zwei Drittel Frauen bei etwas über 150 Patenschaften.
Wie versuchen Sie, das zu ändern?
Wir haben unsere 50 männlichen Mentoren gerade zum Brainstorming aufgerufen: Wo lagen für sie ursprünglich die Hürden? Wie können wir speziell Männern ihre Bedenken nehmen? Außerdem hoffen wir, im Umfeld unserer aktiven Mentoren Menschen dazuzugewinnen, die sich von der Begeisterung anstecken lassen. Mentoring macht nämlich auch viel Spaß!
Oft fehlt diesen Kindern ein verlässlicher Ansprechpartner
Kathrin Sachse
Die Mentees sind Kinder und Jugendliche, die soziale, kulturelle oder familiäre Hürden überwinden müssen. Was sind typische Probleme?
Wir begleiten Mentees zum Beispiel aus Familien mit Migrationshintergrund oder Fluchtgeschichte, mit nur einem Elternteil oder mit vielen Geschwistern. Die Jugendlichen bewegt, dass ihre Eltern so herausgefordert sind vom Leben, dass sie nicht so für ihre Kinder da sein können, wie sie sich das selbst wünschen. Das ist der große Vertrauensvorschuss, den uns die Eltern geben, indem sie sagen: Ich stoße hier an Grenzen, etwa sprachlicher oder finanzieller Art. Ich würde es toll finden, wenn jemand anders meinem Kind diese Dinge ermöglicht, die ich nicht gewährleisten kann. Oft fehlt diesen Kindern ein verlässlicher Ansprechpartner. Einige haben Schwierigkeiten in der Schule, erleben Mobbing oder Alltagsrassismus. Gerade in Familien mit vielen Geschwisterkindern freuen sich die Mentees, ihren Mentor für sich allein zu haben. Den nicht teilen zu müssen, hat eine ganz besondere Qualität und macht den Wert des Mentorings aus.
Haben sich die Probleme geändert seit der Gründung?
Sie haben sich durch Corona verschärft. Auch durch die aktuellen Krisen und Kriege haben junge Menschen mehr mit Zukunftsängsten zu tun. Das haben wir aufgegriffen. Wir bieten unseren Tandems ein Zusatzprogramm zu den Themen Zuversicht, Zukunftsplanung, Wertevermittlung und Demokratiebildung an. Wir wollen Kindern mit auf den Weg geben, dass sie Stärken und Talente haben, dass sie ihren Lebensweg gestalten können.
Die Kinder und Jugendlichen finden nicht nur durch Empfehlung von Autoritätspersonen zu uns
Die Anmeldung der Kinder erfolgt über die Eltern, oft auf Empfehlung von Lehrkräften oder Sozialpädagogen. Kam es auch schon mal vor, dass sich ein Kind selbst angemeldet hat?
Ja, tatsächlich! Wir haben nicht selten Kinder, deren Klassenkameraden in Tandems sind und in der Schule davon erzählen. Dann haben sie sich selbst an den Rechner gesetzt und unser Onlineformular ausgefüllt. Es ist schön und bedrückend zugleich. Wir finden es großartig, dass die Kinder so selbstständig sind. Auf der anderen Seite ist es bedrückend, dass da niemand ist, der sich um das Kind kümmert.
Haben die Kinder immer von Anfang Lust auf das Programm? Gerade in der Pubertät? Falls nicht – wie macht man ihnen dann Lust?
Das klären wir im Vorfeld ab. Unsere Mentoring-Beraterinnen treffen die Kinder zu Hause. Sie fragen: Ist das nur eine Idee von den Eltern oder bringt auch das Kind eine Mindestmotivation mit? Und erklären sorgfältig, was Mentoring ist: keine Nachhilfe, kein Babysitting, kein Elternersatz, sondern ein großer Freund, den wir an die Seite stellen. Den Mentoren und Mentorinnen raten wir, möglichst viele unterschiedliche Aktivitäten auszuprobieren und herauszufinden, worauf das Kind Lust hat und was Spaß macht.
Sie selbst kommen aus einem stabilen Elternhaus. Gab es trotzdem im Rückblick einen Moment, in dem Sie sich eine Mentorin oder einen Mentor gewünscht hätten?
Ich hatte das Glück, neben meinen Eltern, die mir unfassbar viel ermöglicht haben und denen ich unglaublich dankbar bin, immer Bezugspersonen zu haben. Ich hatte eine tolle Französischlehrerin in der Oberstufe, die meine Neigungen erkannt und mich gefördert hat. Auch später in Studium und Beruf standen mir verschiedene Menschen zur Seite. Diese zufälligen Begegnungen haben mir sehr geholfen.
Haben Sie noch einen Abschlusssatz, den Sie gern im Text sehen würden?
Ganz dringend, wenn ich da noch einen Appell unterbringen dürfte: Wir brauchen immer Mentorinnen und Mentoren. Wir haben im Moment 121 Kinder, die warten. Davon sind 92 Jungs. Ganz wichtig: Bitte nicht an sich selbst zweifeln! Man braucht weder pädagogische Qualifikationen noch Erfahrung mit Kindern. Wir achten bei der Zusammenstellung der Tandems darauf, dass sich die Kinder für das Programm eignen. Wir wissen: Wir haben es mit Nichtpädagogen, mit Laien, mit Freiwilligen zu tun. Die Mentorinnen und Mentoren schenken uns das Wertvollste, was sie haben: Ihre Lebenszeit. Das soll eine gute Erfahrung sein für beide Seiten. Insofern: keine Scheu, zu einem Infoabend vorbeizukommen. Die Termine sind auf der Website. Darüber würden sich die 121 wartenden Kinder riesig freuen.