SZENE HAMBURG: Hallo Jörn, hallo Lukas und hallo Annette, wie geht es euch?
Jörn Sturm: Zurzeit fühlen wir uns wie auf Wolke sieben. Die Geburtstagsfeierlichkeiten, die vielen Glückwünsche und die große Unterstützung, das ist einfach toll.
Annette Woywode: Außerdem sind wir total happy, dass wir seit 2021 in unserem Hinz&Kunzt-Haus sind und hier auch mehrere WGs für insgesamt 27 Verkaufende haben. Als Magazin sind wir uns dabei über all die Jahre treu geblieben und bekommen nach wie vor keine öffentlichen Gelder, um auch politisch unabhängig berichten zu können. Denn wir wollen den Finger in die Wunde legen.
Jörn Sturm: Aber natürlich haben wir auch Probleme, so geht zum Beispiel unsere Auflage zurück.
„Hinz&Kunzt“ ist das zweitälteste Straßenmagazin Deutschlands mit einer Auflage von 50.000 Magazinen im Monat. Was ist das Erfolgsgeheimnis?
Annette Woywode: Ich denke schon, dass nach wie vor ganz viele davon begeistert sind, dass Menschen, die in großen sozialen Schwierigkeiten stecken, über den Magazinverkauf die Möglichkeit bekommen, ihr Leben zu strukturieren und hier auch fest eingebunden sind. Dazu kommen unsere Sozialarbeiter, die bei allen Problemen helfen.
Lukas Gilbert: Wir verstehen uns dabei auch als Sprungbrett – das Hinz&Kunzt ein erster Schritt für die Hinz&Künztler:innen ist.
„Wir kommen als Geschäftspartner zusammen“
Könnt ihr erklären, wie euer Geschäftsmodell funktioniert?
Lukas Gilbert: Unsere Verkäufer:innen kaufen das monatlich erscheinende Magazin bei uns für 1,10 Euro ein und verkaufen es für 2,20 Euro auf der Straße weiter. Dazu bekommen sie manchmal auch noch eine kleine Spende.
Welche Rolle spielt die Eigenverantwortlichkeit der Verkäuferinnen und Verkäufer für euch?
Jörn Sturm: Die Förderung der Eigenverantwortlichkeit der Verkäufer:innen durch unser Vertriebsmodell ist das wichtigste. Denn so reden wir immer in erster Linie mit einem Verkäufer, nicht mit einem Obdachlosen. Wir sind darauf angewiesen, dass er oder sie unsere Zeitung verkauft, und er oder sie ist auf das Geld angewiesen. So kommen wir als Geschäftspartner zusammen. Wenn das funktioniert und die Verkäufer:innen Verantwortung für sich und ihr Geld übernehmen, stabilisiert sie das als Menschen und gibt ihnen eine Aufgabe. Wir wissen, dass die Menschen unter Obdachlosigkeit leiden. Eine Struktur kann ihnen helfen.
Wir wollen niemals aufwiegeln, wir wollten schon immer Brücken bauen.
Annette Woywode
Was sind aktuell in Hamburg die drängenden Probleme für obdachlose, wohnungslose und einkommensschwache Menschen?
Jörn Sturm: Der Wohnungsmarkt ist zu. Es gibt zu wenig günstigen Wohnraum und die Zahl Menschen, die in diesem Sektor Wohnungen suchen nimmt zu. Wir haben mehr als eine Verdoppelung von Ende 2021 bis heute (November 2023, Anm. d. Red.), was die Zahl der Wohnungslosen angeht.
Und wie schafft ihr Aufmerksamkeit für diese Themen?
Lukas Gilbert: Wir sind ein Stadtmagazin für alle Hamburger:innen mit einer klaren sozialpolitischen Ausrichtung. Und da verorten wir uns auch als professionelle Journalist:innen. Wir haben mit unserer Glaubwürdigkeit und der Nähe zu den Verkäufer:innen ein echtes Pfund.
Trennung zwischen Lobbyarbeit und Redaktion
Als Magazin mit einer klaren sozialpolitischen Ausrichtung seid ihr als Mitarbeitende von „Hinz&Kunzt“ eher Journalisten oder eher Aktivisten?
Lukas Gilbert: Wir sind Journalist:innen. Da ist uns die Trennung auch ganz wichtig. Wir als „Hinz&Kunzt“ sind ein Projekt und treten als politische Lobbyorganisation in der Stadt auf. Und wenn es darum geht, uns als solche zu vertreten, machen das unser Geschäftsführer, jemand aus der Öffentlichkeitsarbeit oder einer von den Sozialarbeiter:innen, aber nicht wir als Redaktion. Es ist wichtig, dass wir unabhängig bleiben. Aber natürlich haben wir als sozialpolitisches Blatt eine Haltung und berichten über unsere Themen. Das machen wir aber immer mit aller gegebenen journalistischen Sorgfalt.
Annette Woywode: Dem kann ich nur zustimmen. Denn auch sprachlich ist es unser oberstes Gebot, keinen Aktivistensprech an den Tag zu legen. Wir wollen niemals aufwiegeln, wir wollten schon immer Brücken bauen.
Die Leute sterben einfach zu früh.
Lukas Gilbert
Wie findet ihr eure Geschichten?
Lukas Gilbert: Durch den Austausch hier im Haus mit den Hinz&Künztler:innen. Letztens kam erst einer der Sozialarbeiter auf uns zu und sagte, dass es gerade schwierig sei, Menschen im Jobcenter für die Anliegen von Hinz&Künztler:innen zu erreichen. Dann sind wir dem nachgegangen. Ich bin mit dem Verkäufer und einem anderen zum Jobcenter gegangen. So ist die Geschichte entstanden. Und in der Ausgabe aus dem Oktober 2023 hatten wir eine Geschichte zu Ersatzfreiheitsstrafen. Auf die sind wir gekommen, weil uns ein Verkäufer aus dem Gefängnis angerufen hat. Den habe ich dann besucht und daraus ist auch wieder eine Geschichte geworden.
Ein Obdachloser als Journalist?
2021 ist eure Chefredakteurin Birgit Müller nach 27 Jahren bei „Hinz&Kunzt“ in den Ruhestand gegangen und seitdem seid ihr mit einer kurzen Unterbrechung ohne Chefredaktion. Funktioniert das gut?
Annette Woywode: Wir haben uns alle lieb (lacht). Es ist tatsächlich so, dass Birgit Müller ein sehr großes Feingefühl dafür hatte, welche Menschen zusammenpassen. Und nachdem Birgits Nachfolgerin gegangen ist, hatten wir als Team einfach keine Lust mehr auf eine Chefredaktion. Wir wollten die Aufgaben als Team gemeinsam lösen. Und das funktioniert bis heute, denn wir ergänzen uns unglaublich gut mit unseren jeweiligen Expertisen.
Lukas Gilbert: Dazu kommt, dass wir alle verschiedene Erfahrungsstufen haben. Annette ist zum Beispiel schon seit 1996 dabei und ich habe als letzter hier mein Volontariat abgeschlossen. Mittlerweile gibt es dieses „Auf-Augenhöhe-Modell“ auch bei den Sozialarbeiter:innen. Das passt einfach gut zu unserem Projekt.
Birgit Müller hat auch mal gesagt, ihr Traum wäre es, dass ein Obdachloser ein Volontariat macht und Mitglied der Redaktion wird. Wie sieht es damit aus?
Annette Woywode: Davon wusste ich gar nichts (lacht).
Lukas Gilbert: Doch, das hat sie mal in einem Interview erzählt. Geschafft hat sie es in ihrer Zeit nicht. Aber es wäre toll, wenn uns das mal irgendwann gelingt.
„Hinz&Kunzt“: Siggi, Richard und viele Geschichten
Aktuell feiert ihr euren 30. Geburtstag. Zu diesem Anlass gibt es ein großes Mural in der HafenCity. Darauf zu sehen ist Uwe, der 38. Verkäufer von „Hinz&Kunzt“, der 2020 verstorben ist. Wenn ihr an eure Zeit denkt, sind euch bestimmte Geschichten im Gedächtnis geblieben?
Annette Woywode: Da gibt es viele. Aber ganz aktuell ist es unser langjähriger Vertriebsmitarbeiter Siggi. Siggi war auch einer der ersten Stunde, einer der ersten Verkäufer. Er hat dann relativ schnell im Vertreib gearbeitet und war für alle eine Instanz. Er war einer, von dem wir alles mitgekriegt haben: von der Alkoholsucht, über das Überwinden dieser, seinen Rückfall, die Privatinsolvenz und seinen Weg da raus. Siggi hat immer alles geschafft und alle haben Siggi geliebt. Alle. Und dann geht er vor einem Jahr in Rente und ist jetzt vor Kurzem verstorben. Ich kann das selbst noch gar nicht glauben, dass Siggi tot sein soll. Das war für uns ein ganz schöner Schlag.
Lukas Gilbert: Dem kann ich eigentlich nichts hinzufügen. Nur vielleicht so viel: Ich finde immer die Geschichten von Leuten wie Richard Edel beeindruckend, die den Weg raus schaffen. Richard war schwer drogenkrank. Ich habe ihn in der Zeit und auch als Verkäufer nie kennengelernt. Ich weiß nur, wie er heute hier immer wieder vorbeikommt und Dinge organisiert. Mittlerweile hält er sogar Vorträge an der Polizeiakademie zum Umgang mit Drogenkranken.
Annette Woywode: Aber auch wenn es solche Sprungbrett-Geschichten gibt, wir haben auch schon viele Leute sterben sehen. Denn das Leben auf der Straße hinterlässt bleibende Schäden und selbst wenn man es runter schafft, werden die meisten nicht alt.
Lukas Gilbert: Die Leute sterben einfach zu früh. Auch wenn man sich ein bisschen daran gewöhnt, will man sich eigentlich nicht daran gewöhnen. Obdachlose werden im Schnitt nur um die 50 Jahre alt.
Das Ziel: Wohnungsnot beenden
Die EU hat sich vorgenommen Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden. Wenn das klappt, wäre das auch das Ende für „Hinz&Kunzt“?
Jörn Sturm: Nein, denn wir würden immer noch ein Magazin produzieren, das sich um die sozial Schwächeren kümmert und diesen eine Stimme gibt. Denn das will die EU ja nicht abschaffen (lacht). Möglicherweise müssen wir uns dann andere Verkäufer suchen, Obdachlose können es ja dann nicht mehr sein.
Jetzt seid ihr 30 Jahre alt geworden. Was wünscht ihr euch für die Zukunft von „Hinz&Kunzt“?
Annette Woywode: Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, die Wohnungsnot zu beenden. Das ist auch der Urantrieb, der mich einst hierher gebracht hat.
Lukas Gilbert: Natürlich ist das das Ziel. Es ist so verrückt, dass es einem heute so utopisch vorkommt, dass jede:r, gerade in so einem reichen Land, eine Wohnung haben sollte. Aber ich glaube, dass es möglich ist.
Jörn Sturm: Ich wünsche mir weiter die Unterstützung der Hamburgerinnen und Hamburger, dass wir 2030 die Obdachlosigkeit und die Wohnungslosigkeit beseitigt haben (lächelt) und dass unsere Leser:innen noch stärker erkennen, wie schön es ist „Hinz&Kunzt“ zu lesen, weil man da so viele schöne Dinge entdecken kann.
Zum 30. Geburtstag im November 2023 gibt es „Hinz&Kunzt“ ein großes Jubiläumsprogramm, mit dem Höhepunkt, der Jubiläumsgala „Glitzer & Beton“ am 10. November 2023 um 17:30 Uhr im Uebel&Gefährlich