Albert Wiederspiel: „Ich habe es lange genug
 gemacht“

Am 28. September 2023 beginnt das 31. Filmfest Hamburg. 20 Jahre lang prägte Albert Wiederspiel das wichtigste Filmfest der Hansestadt. Nun gibt er sein Amt auf. Der SZENE HAMBURG verrät er, auf welche Filme sich die Zuschauer dieses Jahr besonders freuen können, was ihm in Erinnerung bleibt und was er nach seinem Rückzug als Festivalleiter vor hat
Albert Wiederspiel
Filmfest-Leiter Albert Wiederspiel zieht nach knapp 20 Jahren seine Brille (©Johanna Zobel)

SZENE HAMBURG: Albert Wiederspiel, du hast knapp 20 Jahre lang das Filmfest Hamburg geleitet und geprägt. Mit welchem Gefühl gehst du in die finale Runde?

Albert Wiederspiel: Das ist eine Frage, die mir sehr viele Leute derzeit stellen. Aber irgendwie habe ich noch nicht realisiert, dass es die finale Runde ist. Ich gehe mit demselben Gefühl in dieses Filmfest wie bei allen davor. Und ich möchte, dass es genauso gut wird wie die 20 zuvor.

Abschiede sind oft von Melancholie begleitet: Der letzte Eröffnungsabend, der letzte rote Teppich, die letzte Vorstellung. Ist dir so gar nicht bange davor?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe es lange genug gemacht. Ich bin fast 40 Jahre im Filmgeschäft, etwa die Hälfte davon beim Filmfest. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass es mir fehlen wird. Ich habe Arbeit und Leben schon immer total getrennt. In der Filmbranche verwechseln das die Leute schon mal gern. Ich glaube, dass ich mit dem Gefühl rausgehe, dass ich meine Arbeit getan habe und nun ein neues Kapitel im Leben beginnt. Es kann aber sein, dass wir in einem halben Jahr miteinander sprechen und ich dir einen vorheule.

Derzeit beschäftigt der große Streik der Autoren und Schauspieler in Hollywood die Filmbranche. Droht dieses Jahr ein toter statt ein roter Teppich auf dem Filmfest?

Wir haben ein paar Filme, bei denen die Gäste aufgrund des Streiks nicht persönlich dabei sein werden. Bei „Poor Things“ hätten wir gerne Yorgos Lanthimos und Emma Stone und bei „Priscilla“ hätten wir gern Sophia Coppola zu Besuch gehabt. Umso mehr freue ich mich auf Sandra Hüller, die dieses Jahr von uns mit dem Douglas Sirk Preis ausgezeichnet wird. So wichtig ist Hollywood für unser Filmfest auch nicht.

„Wir versuchen unserem Ruf, ein politisches Filmfest zu sein, gerecht zu werden“

Das 31. Filmfest Hamburg beginnt am 28. September und läuft bis zum 7. Oktober 2023. Gezeigt werden 130 nationale und internationale Spiel- und Dokumentarfilme (©Filmfest Hamburg)

Das Filmfest Hamburg ist dafür bekannt, viele internationale, politisch kontroverse Filme zu zeigen. Welche Filme sind dieses Mal besonders brisant oder überzeugend?

Der Eröffnungsfilm „Inshallah a Boy“ aus Jordanien hat eine starke Aussage. Es geht darin um eine Frau, die nach dem Tod ihres Mannes keine Rechte mehr hat. Wir haben auch einen wunderbaren Dokumentarfilm mit dem Titel „Im Rückspiegel“. Der Film zeigt Frauen und Kinder, die mit dem Auto des Filmemachers Maciek Hamela auf der Flucht aus der Ukraine sind. Sie erzählen dabei ihre Flucht- und Kriegsgeschichten. Das ist der faszinierendste Film, den ich bislang über den Krieg in der Ukraine gesehen habe. Das geht einem viel näher als die Nachrichtenbilder, die man sonst sieht. Wir haben zudem zwei Filme, die indirekt mit dem aktuellen Konflikt in Israel zu tun haben. Der eine ist eine Art Science-Fiction-Film und der andere eine Actionkomödie. Wir versuchen unserem Ruf, ein politisches Filmfest zu sein, gerecht zu werden. Ich finde, das gelingt uns auch.

Können Filme gesellschaftlich überhaupt etwas bewirken?

Auf jeden Fall, ohne Zweifel. Film ist die Kunstform, die einen emotional am stärksten bewegen kann. Du sitzt in einem dunklen Raum und bist empfänglich für die großen Bilder und lauten Töne. Das beste Beispiel ist der aktuelle Nolan-Film „Oppenheimer“. Ich kenne fast niemanden, dem dieser Film gleichgültig ist. Das zeugt davon, wie stark Kinofilme wirken. Kunst kann keine Fragen beantworten, aber sie kann die richtigen Fragen stellen und Gedankengänge provozieren. Das ist schon mehr, als man hoffen darf.

Wim Wenders und mehr Empfehlungen

Viele Gedanken lösen auch die Werke von Wim Wenders aus, der mit gleich zwei Filmen beim Filmfest vertreten ist. Worin unterscheiden sich die beiden Beiträge?

Ich bin voller Bewunderung für Wim Wenders. Nicht nur, weil er dieses Jahr die deutsche Ehre in Cannes rettete, sondern weil er im stattlichen Alter von 78 Jahren zwei irrsinnig frische Filme gemacht hat. Wir sind stolz, dass wir beide Filme haben und Wim für einige Tage hier in Hamburg sein wird. Ich bin überhaupt kein 3D-Fan, aber sein Dokumentarfilm „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ bietet ein fantastisches dreidimensionales Erlebnis. Da macht 3D auch total Sinn, weil die Kunst von Anselm Kiefer auch dreidimensional ist. Wenders schafft es, die Zuschauer da richtig mit reinzunehmen. Sein japanischer Film „Perfect Days“ ist das Gegenteil: ein sehr ruhiger, sehr weiser Film mit einem unglaublichen Hauptdarsteller, der in Japan ein Star ist. Er spielt im Film einen Toiletten-Reiniger. Und Wenders hat Toiletten gefunden, für die allein ich schon nach Tokio reisen möchte. (lacht)

Welche Filme sind noch sehenswert?

Einer meiner absoluten Lieblingsregisseure ist Radu Jude. Er macht herrliche, lustige Filme, die politisch brisant sind. Ich finde ein bisschen, dass Radu Jude der Godard der Gegenwart ist. Er hat meinen Lieblingsfilm in diesem Jahr gemacht: „Don’t Expect Too Much from the End of the World“. Ein genialer Titel. Er hat es geschafft, die gesamte Problematik unserer heutigen Welt in 163 Minuten zu packen. Wenn man politisch mitdenken möchte: Unbedingt den Film ansehen.

Tiefen und Höhen

Wenn du auf die knapp 20 Jahre zurückblickst, in denen du das Filmfest Hamburg verantwortet hast: Welche waren die schönsten und welche die schrecklichsten Momente?

Am schrecklichsten waren die Corona-Jahre. Das zu erleben, wünsche ich keinem Festivalleiter. Gefühlt waren das leere Kinos, da wir diese nur zu 20 Prozent füllen durften. Ich sprach in diesem fast leeren Saal und hätte nur heulen können. Furchtbar. Wir hatten nur drei Gäste, davon zwei aus Berlin. In unserer Verzweiflung haben wir das Festival gestreamt. Stell dir vor, das wäre mein letztes Filmfest geworden! Dann wäre ich direkt in eine Depression geschlittert.

Meine Liebe zu Filmen ist anders geworden

Albert Wiederspiel

Und die schönsten Momente?

Wenn man 21 Filmfeste macht, vermischen sich die Erinnerungen ein wenig. Ich glaube, im allerersten Jahr hatten wir Sophia Loren zu Gast. Es war ein Erlebnis, eine solche Diva nach Hamburg zu holen. Ich sehe immer noch die Paparazzi auf der Brücke, die die Station Dammtor mit dem Cinemaxx verbindet. Ich meine mich zu erinnern, dass sie nicht so genau wusste, wo sie eigentlich war. Ich glaube, im Kino hatte sie „Hallo Düsseldorf“ gesagt. (lacht)

„Ich wünschte mir manchmal, dass das Publikum etwas neugieriger wäre“

Gibt es einen weiteren Star, an den du dich besonders gern erinnerst?

Toll war Catherine Deneuve, weil sie so irrsinnig bodenständig ist. Sie sagte auf der Bühne zum Publikum: „Ich bin überhaupt nicht das, was ihr glaubt.“ Und das stimmt. Deneuve ist im positiven Sinne eine wunderbare Projektionsfläche. Deshalb liebten alle Regisseure sie. Weil du da alles reinprojizieren kannst. Das ist eine Gabe. Entweder man hat’s oder nicht.

Wie hast du dich in den knapp 20 Jahren verändert?

Ich glaube, ich habe in den 20 Jahren eine Menge über Film gelernt. Ich kam ursprünglich aus dem Filmverleih und hatte daher eine sehr kommerzielle Sicht auf das Medium. In der Position des Filmfestleiters hatte ich nur noch mit Filmen zu tun, die mir wirklich am Herzen lagen. Meine Liebe zu Filmen ist anders geworden.

Gibt es Ziele, die du trotz aller Bemühungen nicht erreicht hast?

Die gibt es sicherlich. Da muss ich kurz nachdenken … Jeder Festivalmacher möchte alle Aufführungen zu 100 Prozent ausverkauft haben. Das ist natürlich ein unerreichbares Ziel. Ich wünschte mir aber manchmal, dass das Publikum etwas neugieriger wäre – und auch in den kleinen, dreckigen, südamerikanischen Film ginge. Ein solcher Film ist vielleicht nicht so einleuchtend und vielleicht auch nicht so evident, kann aber eine richtige Entdeckung sein.

Länger bleiben? Das wäre unanständig, sagt Albert Wiederspiel

Bist du zufrieden mit der Wahl deiner Nachfolgerin Malika Rabahallah?

Ich bin sehr glücklich darüber. Nicht nur, weil ich mit Malika befreundet bin, sondern auch, weil ich den Wunsch hegte, dass nicht ein norddeutscher, blonder, 1,90 Meter großer Mann übernimmt, sondern jemand mit einem – das Wort ist schrecklich, aber ich sage es jetzt einfach – Migrationshintergrund. Das ist gut, weil Leute wie Malika oder ich eine andere Farbe in solch ein Filmfestival und in diese Stadt bringen.

Fällt es dir schwer oder leicht, dein Amt abzugeben?

Das fällt mir leicht, weil man wissen sollte, wann es Zeit ist zu gehen. Im Englischen gibt es das wunderbare Wort „indecent“ (unanständig, Anm. d. Red.). Ich habe bald 21 Filmfestivals gemacht. Es wäre indecent, das noch länger zu machen.

Was wünscht und rätst du deiner Nachfolgerin?

Ich wünsche ihr noch mehr neugierige Besucher. Und ich rate ihr, niemals Filme zu zeigen, nur um zu gefallen. Aber ich weiß, dass sie das nicht tun wird.

Albert Wiederspiels Zukunftsfreuden und Berlin

Das Motto des diesjährigen Filmfests lautet „Siehst Du anders“. Glaubst du, dass du Filme bald auch wieder anders sehen wirst?

Ich freue mich vor allem, weniger Filme zu gucken und das zu sehen, was ich auch wirklich sehen will. Ich freue mich, in Zukunft auch wieder mehr zu lesen und ins Theater zu gehen.

Was sind deine weiteren Pläne für die Zeit nach dem Filmfest?

Ich hatte in den letzten Jahren viel mit politischen Flüchtlingen zu tun. Ich könnte mir vorstellen, das auch weiterhin zu verfolgen. Das ist zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, aber jeder Tropfen hilft.

Stimmt es, dass du nach Berlin ziehst?

Das stimmt. Ich denke, es ist für meine Nachfolgerin auch ganz gut, dass ich dann nicht mehr hier so präsent bin.

Wirst du das Filmfest Hamburg weiterhin besuchen?

Das werden wir sehen.

Hier gibt es den Trailer zum Eröffnungsfilm „Inshallah a Boy“

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Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 10/2023 erschienen.

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