Seinen bislang größten Moment als Sportler wird Simon Dornblüth (22) so schnell nicht vergessen. Am 2. Oktober 2022 zog der Fußballer im Weltmeisterschaftsspiel gegen Mexiko von der Mittellinie ab und traf für das deutsche Nationalteam zum Zwischenstand von 1:1. Moment mal, Deutschland hat bei der WM im letzten Jahr gegen Mexiko gespielt? Ja, im Amputiertenfußball. Mit Dornblüth als rechtem Verteidiger, dessen angeborene Unterschenkelamputation links ihn nicht daran hindern konnte, mit seinem gesunden rechten Fuß für Deutschland zu treffen. „Wir haben in einer Umschaltsituation den Ball erobert. Ich habe draufgehalten und etwas Glück gehabt. Danach war der Jubel groß“, erinnert sich Dornblüth.
Die Sportart ist rasant, wirklich superschnell
Inken Pfeiffer, Koordinatorin für Inklusion und Integration beim HSV
Ein weiterer Traum des Studenten war schon ein Jahr vor seinem herrlichen Tor wahr geworden. Der Hamburger Sportverein gründete eine Amputiertenfußballmannschaft, die gemeinsam mit einem Berliner und einem Braunschweiger Team in der aus vier Mannschaften bestehenden Bundesliga als Spielgemeinschaft Nordost an den Start geht. „Ich bin HSV-Fan. Als ich endlich für meinen Herzensverein spielen durfte, war dies ein ganz großer Moment für mich“, sagt Dornblüth.
Kein Abseits und die Krücken sind Tabu
Etwas ganz Großes vollbringen er und seine Mitspieler auch auf dem Feld. Klischees von langsam auf einem Bein hüpfenden Akteuren, die sich behutsam den Ball zuspielen und bloß nicht hinfallen wollen, kann jeder Zuschauer nach ein paar Sekunden beiseite packen. „Die Sportart ist rasant, wirklich superschnell. Ich habe beim ersten Mal Zusehen bei unseren Jungs sehr gestaunt“, sagt Inken Pfeiffer (30), Koordinatorin für Inklusion und Integration beim HSV. Wer ein wenig im Netz stöbert und sich Videoaufnahmen von Partien im Amputiertenfußball anschaut, sieht ihre Worte schnell bestätigt. Auf zwei Krücken hüpfen die Spieler wieselflink über das Feld, stoppen den Ball technisch sauber, holen vor dem Schuss oder Pass aus dem Körper heraus gut Schwung und zielen sehr genau. Es wird ohne Abseits gespielt. Zweikämpfe dürfen geführt, der Ball aber nicht mit den Krücken berührt werden.
„Momentan spielen sechs Spieler der SG Nordost beim HSV. Unser nächstes Ziel ist eine eigene HSV-Mannschaft“, erklärt Pfeiffer. Weitere Motivation erhielt der HSV für dieses Vorhaben von der Alexander-Otto-Sportstiftung. Sie vergab 2022 den mit 15.000 Euro dotierten Werner-Otto-Preis für das neue und innovative Projekt des Amputiertenfußballs an den Verein. Pfeiffer hatte die Bewerbung dafür geschrieben. „Dieser Preis tut uns sehr gut. Die Finanzierung des Projekts Amputiertenfußball beim HSV ist dadurch für die nächsten zwei Jahre bereits jetzt gesichert“, freut sich Pfeiffer. Das Geld wird für Material und Reisekosten zu den Bundesligaspieltagen verwendet.
Vater und Sohn
Aufmerksam wurde Pfeiffer auf den Amputiertenfußball durch die Initiative „Anpfiff ins Leben“, die sich für die Förderung von Menschen mit Amputation einsetzt. Wie wertvoll und neuen Lebensmut spendend aus solchen Anstößen hervorgehende Inklusionsprojekte wie das des HSV sein können, zeigt sich auch am 16 Jahre alten Hinrich Stender. Als Torwart ist er der Rückhalt im Kasten für seine sechs Feldspieler. Den Torhütern im Amputiertenfußball fehlt nicht wie den Spielern ein Bein, sondern einer ihrer Arme ist fehlgebildet (Dysmelie) oder amputiert. „Hinrich hat bei einem Unfall im Jahr 2017 seinen rechten Unterarm verloren. Er hatte bei einer Ferienfreizeit einen Unfall auf einem Schiff. Da war er erst zehn Jahre alt“, sagt Hinrichs Vater Friedrich Stender. „Er hat natürlich mit seinem Schicksal gehadert. Mittlerweile kann er aber besser damit umgehen.“
Ich würde mich sehr freuen, wenn sich weitere Vereine gründen
Inken Pfeiffer, Koordinatorin für Inklusion und Integration beim HSV
Dazu beigetragen hat Hinrichs Aufgabe als Torhüter beim HSV. „Wir sind schon vor einigen Jahren bei einem Jugendcamp des Bundesverbandes für Menschen mit Arm- und Beinbehinderung auf den Amputiertenfußball aufmerksam geworden“, sagt Friedrich Stender. „Hinrich stand bereits als Sechsjähriger im Tor. Er liebte das Torwartspiel immer. Als der HSV dieses Team gründete, war das für ihn endlich die große Chance, wieder in einer Mannschaft zu spielen und dort Wertschätzung zu erfahren.“ Wie Simon Dornblüth sind auch Hinrich Stender und sein Vater Friedrich HSV-Fans – und nun sogar beide für ihren Verein im Einsatz. Sohn Hinrich wehrt im Tor die Bälle ab, Vater Friedrich trainiert die Mannschaft. „Am Anfang fand sich kein Trainer für das Team. Da habe ich eine Lizenz gemacht und mich selbst an die Seitenlinie gestellt. Es macht auch mir wirklich großen Spaß“, sagt Friedrich Stender.
„Wir teilen das gleiche Schicksal“
Sein Team will der HSV nun noch viel bekannter machen. Nicht nur aus eigenem Interesse, sondern für die Sportart insgesamt. „Ich würde mich sehr freuen, wenn sich weitere Vereine gründen. Wenn beispielsweise der FC St. Pauli eine eigene Abteilung gründen würde, wäre ja sogar ein Stadtderby möglich“, blickt HSV-Koordinatorin Inken Pfeiffer in die Zukunft.
Eine entscheidende Bedeutung bei der Werbung für den Amputiertenfußball kommt für den HSV der ersten Monatshälfte im Juni zu. In der Orthopädie des BG Klinikums Hamburg (1. Juni, Bergedorfer Straße 10, Uhrzeit noch offen) und im Orthopädiehaus Stolle (2. Juni, Friedrich-Ebert-Damm 309, 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr) tritt das HSV-Team bei zwei Werbeveranstaltungen auf. Geplant ist auch ein Selbstversuch „Kicken auf Krücken“ für alle Besucher, die die Sportart gerne ausprobieren möchten. Noch besser: Am Wochenende des 10. und 11. Juni richtet der HSV einen Bundesligaspieltag aus. „Der genaue Ort steht noch nicht fest. Vermutlich wird die Veranstaltung an der Ulzburger Straße 94 auf unseren Trainingsplätzen in Norderstedt stattfinden“, sagt Pfeiffer.
Simon Dornblüth und seine Mitspieler wollen auf jeden Fall noch viele weitere schöne Momente miteinander erleben. Bislang wurden sie in der Bundesliga zweimal Dritter. Vielleicht gelingt ihnen eines Tages die deutsche Meisterschaft. Viel wichtiger ist Dornblüth aber etwas anderes. „Wir Amputiertenfußballer teilen das gleiche Schicksal und können uns im Team miteinander austauschen. Das bringt Verbundenheit mit sich. Daraus lässt sich eine gewisse Stärke und viel Selbstbewusstsein ziehen. Deshalb hoffe ich, wir können noch viele Menschen für unsere Sportart begeistern.“
Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 04/2023 erschienen.