Anna Maria Köllner im Interview: „Ich hatte sehr viel Glück“

Seit Februar ist Anna Maria Köllner festes Ensemblemitglied am Thalia Theater. In Lorenz Noltings „Faust Gretchen Fraktur“ schlüpft sie – zusammen mit vier weiteren Darstellerinnen – in die Rolle des Gretchens
Anna Maria Köllner arbeitet auch als Sprecherin für Dokumentarfilme und Hörspiele (©Mathias Lippstreu)

SZENE HAMBURG: Anna, deine erste Rolle am Thalia Theater hast du in Luc Percevals Inszenierung von Hans Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“ übernommen. Deine Darstellung der Violet von Prackwitz wurde in Kritiken besonders lobend hervorgehoben. Kurz nach der Premiere bist du im Februar festes Ensemblemitglied am Thalia Theater geworden. War das Fallada-Stück der Prüfstein für eine Aufnahme ins Ensemble?

Anna Maria Köllner: In der Woche, in der wir angefangen haben zu proben, hatte ich ein Vorsprechen, weil ein neues Ensemble-Mitglied gesucht wurde. Nach der Premiere wurde mir mitgeteilt, dass es geklappt hat. Die Bewerbung lief also parallel. Vielleicht war meine Rolle wirklich eine Art Prüfstein.

Hast du damit gerechnet, dass alles so schnell gehen würde?

Überhaupt nicht. Eine Woche nach dem Abschlussvorsprechen an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch haben schon die Proben für „Wolf unter Wölfen“ angefangen. Ich hatte wirklich sehr viel Glück, denn es gibt viele talentierte Schauspieler*innen.

Wie würdest du die Rolle der Violet beschreiben?

Sie ist ein Mädchen, das sich langweilt und nicht entfalten kann, weil sie mit ihrer Familie auf einem Rittergut in Brandenburg mitten auf dem Land wohnt. Sie erlebt dort nichts, hat keine Freunde und stürzt sich in ihre Traumwelten, in denen sie das Abenteuer sucht – wie mit diesem Fritz. Sie glaubt an die große Liebe und will ihn sogar heiraten, aber er nutzt sie eigentlich nur aus.

Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal in diesem Ensemble zu spielen, in dem du mit Abstand die jüngste Darstellerin bist?

Am ersten Tag war ich sehr aufgeregt, weil ich niemanden kannte. Wir sind ja auch ein Riesenteam mit fast 30 Leuten. Aber der Konsens, dass wir zusammen diese Geschichte erzählen wollen, gab mir ein gutes Grundvertrauen.

Ich erlaube mir, auf der Bühne mehr durchzuatmen

Anna Maria Köllner

Die Tür zum freien Theater bleibt auf

Wie ist deine Liebe zum Theater entstanden? Wann hast du dich entschlossen, Schauspielerin zu werden?

Ich bin in der Schweiz aufgewachsen, direkt an der deutschen Grenze, und meine Mutter ist oft mit uns ins Theater gegangen. Ich hatte in der Grundschule auch sehr theaterbegeisterte Lehrerinnen. Später habe ich in einem Kinder- und Jugendtheater gespielt. Das Einsteigen in diese fantastischen Welten hat mich total abgeholt. Ab der 8. oder 9. Klasse wusste ich dann: Ich will zum Theater.

Hast du dich dann gleich an Schauspielschulen beworben?

Nein, nach dem Abi, das ich in Deutschland gemacht habe, habe ich ein Jahr lang Praktika an verschiedenen Theatern im Bereich Regie und Dramaturgie gemacht, weil ich in der Zeit noch sehr unsicher war und mir nicht vorstellen konnte, auf die Bühne zu gehen. Erst dann habe ich festgestellt, dass ich unbedingt spielen möchte und mich an Schauspielschulen beworben.

Parallel zu deiner Ausbildung wurdest du Mitglied im freien, interdisziplinären Theaterkollektiv Framori in Jena …

Wir haben drei größere Stücke zusammen gemacht: „Einer flog über das Kuckucksnest“, „Farm der Tiere“ und „Draußen vor der Tür“. Ich mag es sehr, wenn man – wie in dieser Gruppe – am ganzen Entstehungsprozess beteiligt ist und sich bei der Konzeption mit einbringen kann. Dabei habe ich extrem viel gelernt über die Theaterwelt, das Schauspiel und den riesengroßen Apparat, der so eine Produktion trägt.

Ist diese Tür zum freien Theater mit dem Einstieg ins Thalia-Ensemble jetzt für dich zugeschlagen?

Das möchte ich auf jeden Fall weitermachen. Aber jetzt werde ich mich auf das Spiel hier konzentrieren, um möglichst viel zu lernen. Die Zeit ist ja auch erst mal auf eineinhalb Jahre begrenzt, weil dann die Intendanz von Joachim Lux endet.

Jede Aufführung ist anders

Violet (Anna Maria Köllner) sucht Halt bei Wolfgang (Sebastian Zimmler): „Wolf unter Wölfen“ (©Armin Smailovic)

Du hast im letzten Jahr auch eine Rolle am Berliner Ensemble übernommen und in „Clockwork Orange“ mitgespielt. Wie kam dieses Engagement zustande?

Das war eine Koproduktion mit meiner Schauspielschule. Im dritten Studienjahr gehen die Student:innen immer an ein oder mehrere Theater. So bin ich am Berliner Ensemble gelandet. Es ist eine tolle Erfahrung, ein Stück so oft zu spielen – bis jetzt knapp 40 Mal. Da habe ich gelernt, wie man sich den Abend frisch hält und mit seiner Energie haushaltet.

Jede Aufführung verläuft anders?

Ja, die Figuren entwickeln sich weiter, und ich entdecke immer neue Sachen. Das gilt auch für die Gruppe insgesamt. Durch die vielen Aufführungen fühle ich mich entspannter, ruhiger und erlaube mir, auf der Bühne mehr durchzuatmen.

Pendelst du noch zwischen Berlin und Hamburg, oder bist du schon ganz in Hamburg angekommen?

Ich pendele noch relativ viel zwischen beiden Städten. Ein Großteil meines Lebens spielt sich immer noch in Berlin ab.

Momentan probt ihr gerade mit Lorenz Nolting an dessen Stück „Faust Gretchen Fraktur“ sehr frei nach Goethe. Magst du dazu schon etwas verraten?

Die Geschichte rund um Faust wird aus Gretchens Perspektive erzählt. Vor allem der groß angelegte Teil, in dem Faust in der Walpurgisnacht mit Mephisto unterwegs ist. Da passiert parallel ja unfassbar viel mit Gretchen. Sie kriegt ihr Kind, bringt es um, landet im Gefängnis und so weiter. Das wird bei Goethe nur in ganz wenigen Sätzen abgehandelt. Bei uns sitzt Gretchen schon im Kerker und erzählt rückblickend, was ihr alles widerfahren ist und was es für einen Deal zwischen Faust und Mephisto gibt.

Du spielst das Gretchen?

Wir sind fünf Gretchen, erzählen gemeinsam diese Geschichte und werden dann vermutlich auch in die anderen Rollen hineinschlüpfen. Wir probieren aber noch vieles aus. Gerade entsteht wieder eine neue Textfassung.

Anna Maria Köllner: Dankbarkeit, viele Ideen und den Moment genießen

Bei Goethe ist Gretchens innerer Konflikt religiös motiviert und resultiert daraus, dass Frauen, die uneheliche Kinder bekommen haben, in der damaligen Zeit gesellschaftlich geächtet wurden. Das ist heute nicht mehr so. Wenn man versucht, den Stoff in die Gegenwart zu übertragen, stellt sich die Frage: Warum ermordet Gretchen ihr Neugeborenes?

Der Deal zwischen Faust und Mephisto, Gretchen zu verführen, läuft auf einen Missbrauch hinaus. Den „schönen Augenblick“, in dem Faust „verweilen“ möchte, setzt er mit dem Sexualakt gleich.

Dem Sex mit einer Minderjährigen …

Genau. Gretchen hingegen verliebt sich in ihn, gibt sich ihm ganz hin und alles für ihn auf. Aus diesem Missbrauch entsteht dann ein Kind. Wie geht man damit um? Wie wird einem geglaubt als Opfer? Das sind extrem aktuelle Themen.

Momentan bin ich erst mal sehr glücklich und dankbar für die Chance

Anna Maria Köllner

Wie gut sollte man als Zuschauer einer Stücküberschreibung das kennen, was überschrieben wird?

Das hängt immer davon ab, wie gut die Vorlage in eine neue Geschichte eingebettet ist. Durch heutige Assoziationen und Bilder versteht man womöglich die Essenz der Geschichte viel besser, als wenn man die alten Verse liest. So bekommt man einen neuen Zugang zu diesem Stoff.

Wer vom Teufel spricht, sollte ihn nicht auch noch an die Wand malen. Trotzdem: Was machst du, wenn du nach dem Wechsel der Intendanz am Thalia Theater nicht übernommen wirst?

Ich habe jetzt noch keine konkreten Pläne, aber einige Ideen im Kopf. Momentan bin ich erst mal sehr glücklich und dankbar für die Chance, dass ich am Thalia Theater in die Berufswelt einsteigen darf. Ich genieße die Zeit, nehme alles mit, was geht, und bin offen für alles, was dann kommt und kommen mag.

Thalia Theater, „Wolf unter Wölfen“, 24.4. und weitere Termine; „Faust Gretchen Fraktur“, 26.4. (Uraufführung), 28.4. und weitere Termine

Dieses Interview ist zuerst in SZENE HAMBURG 04/2024 erschienen.

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