Der sechsjährige Armand soll sich in der Schultoilette an seinem Mitschüler Jon sexuell vergangen haben. Die Frage ist nur: Wie damit umgehen? Und so wird das Klassenzimmer kurzerhand zum Gerichtssaal: empörte Eltern, ein besorgt taktierender Schuldirektor, die junge Lehrerin eher unsicher, umso forscher eine psychologisch ambitionierte Schulschwester mit ständigem Nasenbluten – sie alle bilden zusammen eine geschlossene Front. Elisabeth, Armands alleinerziehende Mutter (überragend: Renate Reinsve), ist Schauspielerin – schön und berühmt, aber nichtsahnend, was sie erwartet. Ein skeptisches Lächeln folgt dem Moment erster Verblüffung, gekonnt wehrt sie sich mit ironischer Präzision gegen die Anschuldigungen. Aber die Situation eskaliert: Ein Strudel von Ressentiments, Eifersucht, Begierde, Eitelkeiten und Rachegefühlen reißt die Beteiligten mit sich.
Elisabeth beginnt zu lachen, es bricht aus ihr hervor: hysterisch, laut, bitter, sarkastisch, voller Verachtung über eine zutiefst verlogene Gesellschaft, die sie so unter Druck setzt. Das Lachen ist nahe der Verzweiflung und doch triumphierend, dauert fast fünf Minuten. Es ging nie wirklich um die Kinder, sie tauchen im Film nicht mal auf. Es geht um die Eltern, und wie Kinder deren Verhalten widerspiegeln.
„Armand“: Schwarze Komik ohne Anspruch auf Logik
Der norwegische Regisseur Halfdan Ullmann Tøndel spielt mit den Konventionen von Melodram und Thriller, wechselt ohne Vorwarnung ins surrealistisch Expressive, eine Choreografie am Rande des Abgrunds. Elisabeth tanzt sich heraus aus der Bösartigkeit, den Verleumdungen, der Ohnmacht gegenüber dem Selbstmord ihres Ehemanns. Während haltlose Anschuldigungen wie Fakten verhandelt werden, erkundet Ullmann Tøndel die Magie der Liminal Spaces, jener Schwellenräume, die plötzlich still und verlassen eine seltsam traumartige Atmosphäre entwickeln. Die Schulkorridore kurz vor den Ferien mutieren zum beklemmenden Labyrinth, verschachtelt wie die Handlung, ein fast unlösbares Puzzle voll wundervoller schwarzer Komik – und ohne Anspruch auf Logik. Ullmann Tøndel ist übrigens der Enkel von Ingmar Bergman, und wie sein legendärer Vorfahre thematisiert er die Spielarten der Lüge. Wahrheit und Aufrichtigkeit waren bei Bergman moralische Vorstellungen, an denen die meisten scheitern. „Armand“ wurde dieses Jahr in Cannes ausgezeichnet mit der Camera d’Or für den besten Debütfilm.
„Armand“, Regie: Halfdan Ullmann Tøndel. Mit: Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Thea Lambrechts Vaulen. 117 Min. Ab dem 16. Januar 2025 im Kino
Hier gibt’s den Trailer zum Film:
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Diese Kritik ist zuerst in SZENE HAMBURG 01/2025 erschienen.