„Ich habe das sowieso noch gar nicht realisiert“, sagte Oke Göttlich, Präsident des FC St. Pauli vier Tage danach. Wonach? Nach einem Tag, der einen Verein, ein ganzes Viertel und sehr viele Menschen in einen Freudentaumel versetzt hat. Denn am 12. Mai 2024 stand fest: Der FC St. Pauli spielt in der kommenden Saison in der ersten Bundesliga.
Es gab Bilder von weinenden Menschen, die sich in den Armen liegen oder den Rasen im Millerntor-Stadion küssen, den zuvor alle geflutet hatten. Dazu der Vereinspräsident, der sich in TV-Interviews hinter einer großen Sonnenbrille versteckte, um die Tränen zu verbergen und Spieler wie der Kapitän Jackson Irvine, der in einem Interview mit dem MillernTon in Tränen ausbricht. Um dieses Spiel und den Aufstieg des Vereins, der so lange im Schatten des „großen“ Hamburger SV gestanden hat, gibt es Hunderte Geschichten, die erzählt werden wollen. Denn schließlich haben Fans, Verein und das ganze Umfeld 13 Jahre auf die Rückkehr ins Fußball-Oberhaus gewartet.
Lena Mayer-Landrut und 5124 Tage
Vor 14 Jahren gab es den letzten Aufstieg, das war am 2. Mai 2010. Damals gewann Lena Mayer-Landrut kurze Zeit später den Eurovision Song Contest, es gab noch kein Corona und Angela Merkels erste Wiederwahl als Kanzlerin war gerade ein Jahr her. Oder anders gesagt: Es war vor 5124 Tagen. Eine Zeit, in der niemand den FC St. Pauli für einen Aufstieg auf dem Zettel hatte. Die wahrscheinlich „größte Sensation im deutschen Profi-Fußball“, so bezeichnete damals das „Hamburger Abendblatt“ den Schritt ins Fußball-Oberhaus. Was folgte, war eine Saison mit einem maximal glücklichen Derbysieg im Volksparkstadion – Stichwort Siegtor Asamoah, die Älteren erinnern sich – und einem 1:8 am letzten Spieltag gegen den FC Bayern München. Und dem Abstieg.
Danach hieß es 2. Liga. Für 13 lange Jahre. Auch wenn ein Pay-TV-Sender nicht müde wird, die zweite Bundesliga Jahr für Jahr als „beste zweite Liga aller Zeiten“ zu bezeichnen, war es für Fans und Verein ein ständiges Auf und Ab. Neben zwei vierten und zwei fünften Plätzen (der dritte Platz ermöglicht erst einen Aufstieg), schrammte der Klub vom Millerntor auch zwei Mal haarscharf am Abstieg vorbei. Ein bisschen Würze kam erst mit der Saison 2018/19. Denn auch der große Rivale, der Hamburger SV, spielte erstmals in seiner Geschichte in der zweiten Bundesliga.
Von Derbys und einem neuen Wind aus Baden
Von zwölf Derbys in der zweiten Bundesliga konnte der FC St. Pauli fünf gewinnen. Zwar wurde jedes Mal die „Stadtmeisterschaft“ gefeiert, aber an dieses „Asamoah-Gefühl“ von 2011 sollte kein Spiel heranreichen. Und wenn mal verloren wurde, freute man sich auf dem Kiez in jedem Jahr dennoch diebisch, wenn der Stadtrivale (mal wieder) knapp am Aufstieg scheiterte. Die nächste Veränderung kam 2019 in den Verein: Auf Uwe Stöver, der gerade mit Kiel auch in die Bundesliga aufgestiegen ist, folgte Andreas Bornemann als Sportlicher Leiter des Klubs.
Der gebürtige Badener habe „eine Rationalität in den Verein eingebracht“, sagte Oke Göttlich gegenüber dem „Spiegel“. Und das Magazin attestiert dem Manager, alte Mechanismen im Klub aufgebrochen zu haben. Das bezieht sich auch auf eine neue und so gern beschworene Leistungskultur. Und 2020 folgte auch ein mutigerer Schritt auf der Trainerposition. Denn bis dahin standen nach dem Abstieg meist erfahrene Trainer (fast alle über 45 Jahre alt) an der Seitenlinie. 2020 machte Bornemann Klubikone Timo Schultz zum Cheftrainer – es folgten ein zehnter und ein fünfter Platz – und nach seiner Entlassung setzte der Klub auf den 29-jährigen Fabian Hürzeler. Dieser hat seit seiner Amtsübernahme am 22. Dezember 2022 einen Punkteschnitt von 2,15 pro Spiel. So gut war noch kein Trainer in der Vereinsgeschichte, der mehr als 15 Spiele im Amt war. Die Fans und der Verein scheinen seitdem das Verlieren verlernt zu haben.
Ein Machtwechsel in der Hansestadt
Und so ist der historische Moment vom 26. April 2024 folgerichtig: Zum ersten Mal beendet der FC St. Pauli eine Saison der Profi-Männerelf vor dem Hamburger SV. Doch der Jubel ist gar nicht so groß. Viel größer ist die Sehnsucht, die Durststrecke von 13 Jahren endlich zu beenden. Am 12. Mai entlädt sich dann alles beim Platzsturm nach dem Aufstieg. Wie sehr die Fans und der Verein gewartet haben, zeigen auch die Bilder vom 20. Mai: Als der die Profi-Männerelf im Rathaus empfangen wird und im Anschluss mit einer Demonstration durch die Innenstadt bis auf St. Pauli zieht. Begleitet von Pyros, lautem Jubel und zehntausenden Menschen wird dann auf dem Spielbudenplatz bis spät in die Nacht nicht nur der Aufstieg, sondern auch die Zweitligameisterschaft gefeiert.
Jetzt steht der FC St. Pauli erstmals eine Liga über dem Hamburger SV, der außerdem ab der kommenden Saison die dienstälteste Mannschaft in der zweiten Bundesliga stellt. „Eine Zeitenwende“, wie es der „Spiegel“ formuliert. Das kann der „kleine“ FC St. Pauli für sich nutzen, auch weil der Klub „oft ein bisschen cooler ist als der HSV“, wie es Christoph Heinemann im Newsletter der „Zeit“ am Tag nach dem Aufstieg schreibt. HSV-Fan Heinemann, der den FC St. Pauli „noch nie hassen“ konnte, hofft, dass der Verein nicht anfängt, „überteuerte Spieler zu kaufen, immer mehr zu wollen“ und sich „von Erfolgsfans durchsetzen zu lassen“. Doch das ist alles ein Thema für die nächste Saison, wenn man den Bayern die Lederhosen ausziehen will. Bis dahin ist Freudentaumel, Emotion und alle arbeiten daran, das Ganze nach 13 langen Jahren erst mal zu realisieren.
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 06/2024 erschienen.