Bewegte Zeiten: Das Autokino auf dem Heiligengeistfeld

Bewegte Zeiten: Das Autokino auf dem Heiligengeistfeld (Bild: Jérome Gerull)

Ein Autokino, mitten in der Stadt – das gab es in Hamburg noch nie! Am 6. Juni 2020 war Premiere auf dem Heiligengeistfeld. Gezeigt wurde „Lindenberg! Mach dein Ding“. Regisseurin Hermine Huntgeburth war dabei und gab Einblicke in die Produktion. Dann erschien Udo auf der Leinwand und sprach wie der heilige Geist der Hansestadt auf das Feld hinab. Die Geschichte eines unvergesslichen Abends

Text: Marco Arellano Gomes / Fotos: Jérome Gerull

Matthias Elwardt schreitet Richtung Leinwand, bleibt stehen, setzt seinen Mund-Nasen-Schutz auf, dreht sich zu den Journalisten und grinst. Und grinst. Und grinst. Erst nach einigen Sekunden wird klar, dass das Grinsen aufgesetzt ist. Der Geschäftsführer der Zeise Kinos reißt in bester „Mission Impossible“-Manier seine Maske vom Gesicht, zeigt ein noch breiteres Grinsen und löst das Rätsel auf: Das sei eine Fotomaske „von einer kleinen Textildruckerei aus Winterhude“. Täuschend echt und doch nicht das Original – das trifft irgendwie auch auf diesen Abend zu.

Heiligengeistfeld, kurz vor 20 Uhr. Die Sonne geht hinter dem mächtigen Schutzbunker an der Feldstraße unter und taucht den frühsommerlichen Abendhimmel in ein helles, warmes Orange. Nur einige wenige dunkle Gewitterwolken schweben noch am Horizont – eine prachtvolle Kulisse für diesen lange ersehnten Kinoabend. Hier beginnt am heutigen Tag, dem 6. Juni 2020, ein neues Kapitel: die Rückkehr der Autokinos, nach 17 Jahren.

Für viele wird dieser Abend die erste Autokinoerfahrung sein. Zwar gab es in Hamburg von 1976 bis 2003 das „Drive In“ in Billbrook. Doch die wenigsten waren in diesem ersten und einzigen Autokino Hamburgs zu Besuch. Sie alle sind heute gekommen, um nach Monaten der Abstinenz überhaupt einen Kinofilm auf einer Leinwand zu sehen: gemeinsam, gemütlich, gespannt. Fast wie im Kino.

Vier Autokinos in Hamburg

Vier Stück gibt es nun in Hamburg: Das „Autokino – Bewegte Zeiten“, auf dem Heiligengeistfeld, das „SEAT Cruise Inn“ in Steinwerder, das „Lotto Hamburg Auto­kino“ auf der Bahrenfelder Trabrennbahn und das „Independent Autokino“ im Oberhafen. Und so wie die Sonnenstrahlen sich an diesem Tag durch die dicken, grauen Regenwolken kämpften, so sind die Autokinos der Lichtblick in einer düsteren Phase des Corona-bedingten kulturellen Lock- beziehungsweise Shutdowns.

Mitten auf dem Feld, das die Begriffe ­Heilig und Geist im Namen trägt, atmet die Stadt, wenige Tage nach Pfingsten, gemeinsam auf und nimmt dabei die Diesel-Abgase billigend in Kauf. Es ist Premierenabend. Knapp 1.000 bis 1.500 Menschen fahren in ihren 500 Autos von der Glacischaussee kommend einen großen Bogen, Richtung Bunker. Die Autos halten brav 1,5 Meter Abstand.

Zu sehen gibt es den Film „Lindenberg! Mach dein Ding“ – auf zwei Leinwänden, zeitversetzt um eine Stunde. Zwischen den beiden, liebevoll Kino 1 und Kino 2 genannten Plätzen, befinden sich 30 gelbe, aufeinandergestapelte Schiffscontainer. Auf beiden Seiten dieser Container-Wand sind 126 Quadratmeter große LED-Leinwände befestigt.

Premiere: Am 6. Juni 2020 flimmerte der erste Film über die Kinoleinwand des Autokinos am Heiligengeistfeld (Bild: Jérome Gerull)

„Wir stehen hier im derzeit größten Kino Hamburgs und eröffnen heute Abend mit einem ganz tollen Hamburg-Film“, sagt Elwardt, Mitveranstalter des heutigen Abends. „Die Regisseurin ist da, der Produzent ist da. Das wird bestimmt toll.“ Dann schreitet er mit Regisseurin Hermine Huntgeburth und Produzent Michael Lehmann in Richtung eines Glaskastens, direkt neben der Leinwand. In wenigen Augenblicken führt er dort ein Interview mit den beiden.

Die Stimmung ist prächtig. Am Einlass und am Ticketstand strahlen sowohl die Mitarbeiter der Bergmanngruppe, die seit Wochen in Kurzarbeit waren und nun endlich wieder ein Event zum Leben erwecken können, als auch die Gäste, die ihre Tickets durch die Scheibe scannen und sich einen Stand weiter auf der rechten Fahrspur ihre Snack-Packs – gefüllt mit Popcorn, Chips, Cola oder Bier – durch die Fenster reichen lassen. „Moin, danke, viel Spaß, Weiterfahren!“

Ein roter Teppich liegt auf beiden Fahrspuren aus. Die Stars sind die Autos. Wer hätte gedacht, dass die vor Kurzem noch verhassten Boliden ein solches Comeback erleben würden? Es duftet nach frischem Popcorn, direkt vor Ort produziert in der original Popcorn-Maschine aus dem Zeise Kino. Wer nur eine Minute hier steht, fühlt sich wie im Kino. Erinnerungen werden wach, an unzählige Abenteuer, die nur das Kino zu schreiben vermag. Schon erstaunlich, was Gerüche alles auslösen können!

Die Idee, Autokinos anzubieten, entstand aus der Not heraus. Der Bergmanngruppe, die das Autokino am Heiligengeistfeld gemeinsam mit den Zeise Kinos auf die Räder gestellt hat, waren im März 100 Prozent aller Aufträge weggebrochen. „Von heute auf morgen“, sagt Geschäftsführer Thorsten Weis. Er trägt einen grauen Fünf-Tage-Bart, graue Sneaker, graue Jeans, einen dunkelgrauen Pullover, darüber einen ärmellosen Overall in Anthrazit mit einem Spruch des Hauptsponsors auf dem Rücken. Nur seine moderne Brille mit breitem Gestell ist schwarz.

Zeise Kinos und Bergmann-gruppe riefen das Autokino ins Leben

Sein Team nennt ihn Thorsten der Graue, in Anlehnung an Gandalf den Grauen aus der „Herr der Ringe“-Trilogie. Einen spitzen Hut trägt er nicht, auch führt er keinen Zauberstab mit sich, aber an der rechten Hand trägt Thorsten Weis einen wuchtigen silbernen Ring mit dunklem Stein darin. Vielleicht liegen hier magische Kräfte verborgen. In jedem Fall hat er mit seinem Team fast Unmögliches vollbracht.

Als er, kurz nach Einbruch aller Aufträge, las, dass in anderen Bundesländern Autokinos weiter erlaubt waren und neue entstanden, kam ihm die Idee: Warum nicht ein Autokino hier in Hamburg? Er erstellte ein Konzept. Es erschien machbar. Nur bei der Filmkompetenz brauchte er Unterstützung. „Zur Vorführung von Filmen braucht es Lizenzen und es müssen diverse Abgaben an die Verleiher, die Filmförderung geleistet werden.“

Weis schrieb eine Mail an die Zeise Kinos. Eine halbe Stunde später rief Matthias Elwardt zurück. „Wir haben uns sofort verstanden und gleich gesagt, wenn wir es machen, dann machen wir es groß. Zwei Flächen. Wir machen die Orga, er den Filmpart. Fifty-fifty.“ Es gab noch 22 weitere Interessenten für dieses Filetstück in bester Innenstadtlage. Gegen Himmelfahrt erhielten Bergmanngruppe und Zeise Kinos den Zuschlag.

Das Autokino ist ein Risiko

Das Autokino ist ein Risiko. Erst bei einer Auslastung von etwa 60 Prozent ist es lohnenswert. Darunter ist es unrentabel. „Wir können uns eine Niederlage nicht leisten. Wir sind ja schon am Boden“, gibt Weis offen zu, „aber das Projekt ist auch ein Lichtblick, ein Start, um die Stimmung aufzuhellen.“ Der Start hätte nicht besser laufen können: Das Autokino ist ausverkauft. Das Wetter spielt mit. Die Stimmung ist befreit.

Die Strahlkraft des Autokinos reicht weit über die Stadtmauern hinaus. Die Autos tragen Kennzeichen aus Hamburg, Kiel, Pinneberg, Bad Oldesloe, Winsen an der Luhe, Bad Segeberg und Ostholstein. Einige sind zu früh da – unter ihnen ein Ford Mustang GT. Der Einlass für Kino 2 beginnt eine Stunde später. Manche können es einfach nicht erwarten. Ein Fahrer hat keine Karte, er wollte „nur mal gucken, wie das hier so läuft“. Ein Hubschrauber fliegt vorbei. „Da kommt Udo, endlich!“, ruft Weis. „Der landet jetzt oben auf dem Container.“ Alle umherstehenden Personen lachen.

Die Journalisten gehen auf Tuchfühlung mit dem Publikum, O-Töne sammeln. „Ich freue mich sehr auf den heutigen Abend“, sagt eine Frau aus Othmarschen. „Es ist ja schon ein bisschen her, dass man Filme im Autokino gucken konnte.“ Ein Besucher aus dem Emsland sagt: „Wir sind eigentlich nicht wegen des Autokinos hier. Das ist ein Abfallprodukt – wenn auch ein sehr angenehmes.“ Eine Besucherin aus Pinneberg findet die Film­auswahl in Hamburg besser: „Bei uns laufen vor allem deutsche Komödien, die man nicht sehen will.“

Bewegte Zeiten: Udo Lindenberg sendet Videobotschaft (Bild: Jérome Gerull)

Produzent Michael Lehmann steht im Glaskasten und wirkt sichtlich zufrieden: „Das ist Hamburg at it’s best. Millerntor, Bunker, Fernsehturm, Heiligengeistfeld, Udo.“ Regisseurin Hermine Huntgeburth gibt sich „schwer beeindruckt“. Die beiden unterhalten sich mit Matthias Elwardt über die Drehorte in Hamburg und die Zusammenarbeit mit dem Rockstar, dessen Lebensgeschichte heute gezeigt wird.

Dann wünschen die drei den Zuschauern viel Spaß und gehen zu ihren Autos, den Film ansehen. Die Zuschauer beginnen zu hupen, obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist. Aber es ist Premierenabend und da gehört das Unvorhergesehene irgendwie dazu. Die Spannung steigt, der Film beginnt, doch zuvor gibt es noch eine Überraschung: eine Botschaft von Udo – direkt über UKW in alle Autos übertragen.

Auf der Leinwand erscheint er ganz plötzlich, mit Hut und Sonnenbrille, überdimensional groß: „Hey Freunde, keine Panik! Euer Udo, hier im Autokino. Ja echt, ein Hammer-Ding. Autokino? Wie romantisch! Kann man dolle Sachen machen: Bisschen Kuschel-Kuschel, bisschen Schmuse-Fix. Yeah Leute, und hier ist der Streifen: „Mach dein Ding“ Ihr müsst da durch, durch die harten Zeiten. Jede Menge Panik-Power mit Jan Bülow. Leute, keine Panik! Euer Udo. Yeah. Awhuuuh!“

Nun läuft der Film. Außerhalb der Autos wird es still. Nur einige wenige haben ihre Fenster leicht geöffnet. Aus einem der Wagen in Kino 1 dringen tiefe Bässe. „Da hat wohl jemand eine Dolby-Digital-Anlage einbauen lassen“, sagt ein Reporter. Kino mit Wumms, würde Olaf ­Scholz wohl dazu sagen.

Von Cineasten für Cineasten

Die blaue Stunde ist angebrochen, ein Zeitfenster, während der Dämmerung, bei der eine besondere Färbung des Himmels eintritt. Einzelne Pollen fliegen durch die Luft. Durch das Licht der Leinwand wirken sie wie die Staubpartikel im Kino, die durch das Licht der Projektion im Dunkeln sichtbar werden. Es könnten aber auch überdimensionale Corona-Bällchen sein. Ab und an ziehen Mitarbeiter mit dem Bollerwagen durch die Reihen, schließlich soll niemand verhungern oder verdursten. Sie tragen Masken.

Die Zuschauer machen es sich derweil gemütlich. Einige haben Decken mitgebracht, andere sitzen in Pulli und Jogginghose auf ihren Sitzen, und weiter hinten lassen sie die Korken knallen. Aussteigen ist im Autokino, abgesehen von Notfällen, nicht erlaubt. Dennoch öffnen einige ihre Türen, um ein paar Krümel vom Pullover zu klopfen, einfach mal die Beine zu strecken oder die Toilette aufzusuchen. Letzteres ist ja quasi auch ein Notfall.

Was beim Autokino auf dem Heiligengeistfeld auffällt, ist die Liebe zum Detail: So stehen auf einem Banner, vor den Toiletten, die Worte: „Life of Pi Pi“ – eine Anspielung auf den Erfolgsfilm von Ang Lee, „Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger“. Vor den Ausgängen steht: „Hasta la Vista, Baby“. Dieses Autokino – so viel wird deutlich – ist von Cineasten für Cineasten. Bis August wird es auf dem Heiligengeistfeld sein Programm anbieten. Fünf bis acht Vorstellungen pro Tag.

„Wir kriegen’s hin“

Der Premierenabend neigt sich dem Ende zu. Es ist dunkel. Nur noch das Licht der Leinwand erfüllt den Platz. Ein letztes Mal ergreift Udo das Mikro, singt den Song „Niemals dran gezweifelt“. Darin heißt es: „Ich war noch jung und lag die Nächte wach, und in meinem Kopf ganz großes Kino. Hatte so ’ne Sehnsucht, doch wonach? All das war mir da, noch nicht so klar. Und dann zog ich in die große Stadt, wird’s auch mal gefährlich oder schwer, pack ich meinen Mut unter den Hut und jag den großen Träumen hinterher. Ich hab niemals dran gezweifelt, dass wir das überstehen. Niemals dran gezweifelt, wir kriegen’s hin.“

Udo singt – und alle auf dem Heiligengeistfeld atmen auf. Vielleicht ist das Autokino nicht das Original, aber es ist, wie man in diesem Moment merkt, verdammt nah dran. Matthias Elwardt schreitet schnellen Schrittes auf sein Auto zu. Bis zu diesem Abend gab es für den Zeise-Chef – ebenso wie für den Rest der Kinobetreiber – wenig zu lachen.

Die Kinos hatten knapp drei Monate geschlossen, verloren Unsummen an Geld und werden die Miet- und Personalkosten nach Wiedereröffnung im Juni beziehungsweise Juli aufgrund der strengen Auflagen wohl nicht erwirtschaften. Einige bangen ums Überleben, viele hängen am Tropf staatlicher Überbrückungshilfen. Elwardt verabschiedet sich, setzt sich in seinen schwarzen Smart und flitzt grinsend davon. Ob er sein Grinsen vorher aufsetzte, war nicht zu erkennen.

www.autokino-in-hamburg.de

 Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Juli 2020. Das Magazin ist ab dem 27. Juni 2020 im Handel! 

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