Antú Romero Nunes hat Schauspieler aus neun verschiedenen Nationen zusammengetrommelt, um sie ins „Neverland“ zu führen. Auf der Folie von James Matthew Barries „Peter Pan“ erzählt der Regisseur von einer entwurzelten Generation
Interview: Sören Ingwersen
SZENE HAMBURG: Warum hast du ausgerechnet einen Stoff, der als Kinderbuch erfolgreich wurde, als Vorlage für deine Inszenierung „Neverland“ ausgewählt?
Antú Romero Nunes: „Peter Pan“ war ja kein Kinderbuch, sondern ein Stück für Erwachsene, das nach der Uraufführung 24 Spielzeiten auf dem Programm stand. Ich nutze es aber nur als Blaupause, um meine eigene Geschichte zu erzählen mit einer Konstellation von Figuren, die in den letzten hundert Jahren fast schon zu Archetypen geworden sind: Peter Pan, Tinkerbell, Hook und Wendy.
Worin liegt das Erfolgsgeheimnis von „Peter Pan“?
Es war damals ein totales Novum, so viele Welten in einem Stück unterzubringen: die Indianerwelt, die Piratenwelt, die Waisenkinderwelt. Aber vor allem hat James Matthew Barrie wahnsinnig gute Szenen geschrieben, die in sich so schlüssig und knackig sind, dass man einfach seinen Spaß hat.
Er beschreibt ein sehr bürgerliches Milieu, in dem es zwar viele Regeln gibt, aber auch eine große Entwurzelung. Das betrifft auch den Autor selbst, der wie Michael Jackson irgendwann aufgehört hat zu wachsen, wie ein Kind weitergelebt und sich nur noch mit Kindern verstanden hat.
Barrie ist eine sehr rührende Figur, und ich setze ja immer bei der Person des Autors an, wenn ich einen Stoff auf die Bühne bringe.
Inwiefern ist die Entwurzelung auch heute ein Thema?
Wir sind Europäer, aber Europa stiftet keine Identität mehr. Deshalb erzähle ich die Geschichte eines Mannes, der in der Mitte seines Lebens durch die Welt reist, aber eigentlich nirgends wirklich ankommt und nur darauf wartet, dass die Welt sich auflöst, so wie er selbst.
Dieses apokalyptische Gefühl hat ja auch mit unserer eigenen Leere zu tun. Es gibt keine neuen Inhalte mehr. Die endlose Wiederholung der Geschichte wird auf Dauer langweilig. Wie man innerlich ausbrennt, brennt auch die Welt um einen herum ab.
Wenn du von Entwurzelung sprichst und ich an die „Lost Boys“ aus „Peter Pan“ denke, liegt auch das Flüchtlingsthema auf der Hand …
Darum geht es mir überhaupt nicht. Ich will die Leute nicht aufklären. Politik ist keine Sache des Theaters. Sie ist das Ergebnis von menschlichen Zusammenhängen. Also geht es darum, sich im Leben zu positionieren. Man sollte Fragen, warum Menschen so handeln, wie sie handeln. Versuchen wir nicht immer nur, unseren körper eigenen Hormonhaushalt optimal aus zugleichen? Sind wir konditionierbar?
Oder: Was haben wir mit den Hunden gemeinsam? Warum lassen wir Hunde überhaupt zu? Was machen die mit uns? Und was steckt alles in einer Liebesbeziehung? Wie kann man sie vergleichen mit der Gentrifizierung einer Stadt? Solche Fragen führen zu hochemotionalen Ergebnissen, die zwar nichts beantworten, aber Türen aufmachen. Dann wird Theater intelligenter als ich selbst, und ich sage: Toll, jetzt fängt das Biest an zu leben und erzählt mit etwas!
„Das Kollektiv ist das Genie“
Wie positionierst du dich selbst als Regisseur? Bist du der Peter Pan, der die Zuschauer mit Feenstaub betäubt, um sie anschließend mit ihren Träumen und Ängsten zu konfrontieren?
Es wäre natürlich sehr schön, wenn man sich so sehen könnte. Ich sehe mich aber nicht als Inspirator, sondern sage nur: Hier sind die Türen. Für „Neverland“ habe ich – diesmal zusammen mit Anne Haug – auch den Text geschrieben, was ich schon häufiger getan, aber nie öffentlich gemacht habe.
Für mich ist nicht der Autor oder Regisseur, sondern das Kollektiv das Genie. Das besteht diesmal aus Schauspielern, die aus vier Theatern und sieben Schauspielschulen unterschiedlicher Länder kommen und nicht einmal alle richtig Englisch verstehen. Daher geht es uns auch um die Sprache selbst, um ihren Klang und die Verständigungsmöglichkeiten.
Was macht die Erfindung des Leiselesens eines Buches mit deinem Kopf? Wie beschränkt uns die Tat sache, dass wir alles nur noch abstrakt begreifen und kaum noch agieren? Diese Fragen werfe ich in die Gruppe und schaue, was sich daraus entwickelt. Wir sind einfach ein Haufen charismatischer Menschen und zapfen uns alle gegenseitig an.
Gibt es einen Weg, Neverland zu verlassen, um wieder zur eigenen Identität zu finden?
Vielleicht muss man nur begreifen, dass man sich in einem Neverland befindet und dass es Identität gar nicht gibt und sie auch nicht wichtig ist. Oft fragen mich die Leute: Wie lebst du seit sieben Jahren ohne Wohnung? In welcher Sprache denkst du? In welchem deiner drei Länder – in meiner Familie gibt es ja auch Fluchterfahrungen – fühlst du dich am meisten zu Hause?
Ich finde diese Fragen sehr merkwürdig. Fragt mich doch lieber, was ich gerne esse oder für welches Buch ich mich interessiere.
Aber steht das alles nicht für eine bestimmte Identität?
Nein, das sind alles bewusste Entscheidungen. Man weiß doch, dass Menschen sich von einer zur anderen Sekunde komplett neu erfinden und alles hinter sich lassen können.
Das könnte aber auch heißen, dass Identität eben nur temporär ist. Wenn sie ins Wanken gerät und man einen Therapeuten konsultiert, ist die erste Frage: Was bedeutet Ihnen am meisten im Leben? Dahinter steht doch die Frage, was einen ausmacht, wohin man sich bewegen möchte.
Mein Vater ist ja Psychoanalytiker, ich bin damit aufgewachsen und arbeite auch ein bisschen so. Natürlich leben wir auf Grundlage bestimmter Voraussetzungen. Aber wichtig ist, dass man ständig Entscheidungen trifft. Und die Summe dieser Entscheidungen und Handlungen macht einen Menschen aus. Das beinhaltet allerdings, dass man sehr wohl verantwortlich ist für das, was man tut.
Verantwortung wirst du ab der nächsten Spielzeit in noch größerem Umfang übernehmen. Stichwort: Basel.
Jörg Pohl vom Ensemble des Thalia Theaters und ich werden zusammen mit den Dramaturginnen Anja Dirks und Inga Schonlau Schauspieldirektoren am Theater Basel. Nach unserem Leitsatz „Das Genie ist das Kollektiv“ wollen wir auch dort alles aus dem Ensemble und aus den Persönlichkeiten der Schauspieler heraus entwickeln.
Thalia Theater: Alstertor (Altstadt), „Neverland“: 12.10. (Premiere), 13.+17.+18.10.
Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG, Oktober 2019. Titelthema: Neu in Hamburg. Das Magazin ist seit dem 28. September 2019 im Handel und zeitlos im Online Shop oder als ePaper erhältlich!