Sascha Belli, erster Vorsitzender der Fachgruppe Schausteller im Landesverband, über die ungewisse Wiedereröffnung des Hamburger Dom, die gegenwärtige Lage der Betreiber und alternative Ideen
Interview: Marco Arellano Gomes
Das Interview wurde am 9. Oktober geführt. Der Senat gab am 23. Oktober bekannt, dass der Winterdom 2020 nicht stattfinden wird.
Hamburger Hafen, Kehrwiederspitze. Es ist Freitagnachmittag, der 9. Oktober. Das Wetter ist wechselhaft. Mal ziehen Wolken vorbei, mal schaut die Sonne hindurch. Mal ist es warm, mal ist es kalt. Das passt zur Gefühlslage von Sascha Belli, dem ersten Vorsitzenden der Fachgruppe Schausteller des Ambulanten Gewerbes der Schausteller e. V., der auf dem Hamburger Dom sowohl einen Crêpes-Stand als auch eine kleine Achterbahn namens „Kuddel der Hai“ betreibt. Mal sieht es so aus, als könnte der Dom stattfinden, mal nicht. Einige Boote ziehen vorbei. Touristen spazieren die Niederbaumbrücke entlang, schießen Fotos und machen beim Crêpes-Stand mit dem charakteristischen Eiffelturm auf dem Dach Halt. Der Duft nach frischen Crêpes und Nutella hat so seine Wirkung. Vier Euro kostet der Pfannkuchen bretonischer Herkunft. „Von irgendetwas muss ich in diesen Zeiten ja leben“, sagt Belli und grinst. Noch ist ihm das Lachen nicht vergangen. Noch ist er guter Hoffnung, dass sich eine Lösung finden lässt – und sei es abseits des Heiligengeistfeldes.
SZENE HAMBURG: Herr Belli, wann wird es denn mit dem Dom wieder losgehen?
Sascha Belli: Wenn ich so auf die steigenden Fallzahlen schaue, erscheint es wieder offen, ob der Dom stattfinden wird. Ich hoffe sehr, dass wir die Zahlen in den Griff bekommen. Hier in Hamburg geht es ja – im Vergleich zu anderen Städten – noch. Wenn alles gut geht, wird der Dom vom 6. November bis zum 6. Dezember auf dem Heiligengeistfeld stattfinden.
Wie können Sie bei solchen Ungewissheiten planen?
Planen?! Planen können wir nicht. Das ist ja für uns Schausteller von Anfang an das Schlimme gewesen: Dass man überhaupt nie weiß, ab welchem Datum man wieder starten kann.
Wurde bisher ein Termin genannt oder eine Prognose abgegeben?
Nein. Wie soll man das auch tun? Ich habe sogar Verständnis dafür. Wie soll man etwas entscheiden, was man selber nicht weiß. Die Situation ist für alle unsäglich. Wir stehen damit als Schausteller nicht alleine. Da gehören etliche zu.
Gab es für die Schausteller denn Hilfen?
Das Konjunkturpaket hilft den Betrieben durchaus. Schausteller wie ich bekommen, da wir als Härtefälle eingestuft werden, bis zu 90 Prozent der Fixkosten erstattet. Auch nicht jeder Schausteller ist in der glücklichen Lage, an anderen Orten untergekommen zu sein.
Wenn ich mich so umschaue, haben Sie einen vergleichsweise guten Standort für ihre Crêpes-Bude gefunden.
Ja, da haben wir Glück gehabt. Diese Stelle ist sehr gut frequentiert. Es gibt schlechtere Stellen. In der momentanen Phase sind wir dankbar für alles, was hilft.
Wie viele Stände sind gegenwärtig in der Stadt verteilt?
Wir waren teilweise über 80. Hier an der Elbpromenade waren 22. Das war allerdings zeitlich begrenzt, da nun Sturmflutsaison ist.
Wer hatte eigentlich die Idee, die Stände in der Stadt zu verteilen?
Das war eine Initiative, die sowohl von den Ständebetreibern als auch der Stadt gemeinschaftlich erdacht wurde. Als Kind sah ich das öfter. Da stand schon mal ein einzelner Stand an einer U-Bahn-Station, der gebrannte Mandeln verkauft hat oder Zuckerstangen. Jetzt hat man diese Tradition quasi aktiviert und auf Gebühren verzichtet.
Was machen die Besitzer der größeren Attraktionen, wie der Achterbahn, zurzeit?
Es gab deutschlandweit sogenannte Pop-up Freizeitparks, also temporäre Freizeitparks, da haben zumindest einige ihre Attraktionen aufbieten können.
Wie sieht denn das Konzept für den Winterdom konkret aus?
Die Besucherzahl, die zeitgleich auf dem Gelände sein darf, wäre auf 6.000 begrenzt. Man müsste sich vor dem Besuch online anmelden und bekommt einen QR-Code zugeschickt. Es gibt dann Zeitfenster, innerhalb derer man auf das Gelände darf. Bei den Imbissbuden muss man sich dann noch mal registrieren, also haben wir eine doppelte Registrierung. Sollte etwas schieflaufen, kriegt man also auch raus, wer es war.
Wird der gesamte Betrieb vor Ort sein, oder sagen einige: Bei der Anzahl an Personen lohnt sich das für mich nicht?
Wenn wir wieder loslegen wollen, dann müssen wir das jetzt auch tun. Da gehört dann auch eine Portion Mut dazu. Aber wenn wir jetzt nicht damit anfangen, wann dann? Wann wollen wir den Lernprozess durchgehen? Das ist für uns ja auch Neuland.
Wann müssten Sie denn wissen, ob es losgehen kann?
Das sollte sehr bald entschieden werden, weil wir nächste Woche mit dem Aufbau anfangen müssten. Allein der Aufbau kostet mich etwa 2.000 bis 3.000 Euro, bei den großen Attraktionen können es bis zu 20.000 Euro sein. Ich würde ungern in die Situation kommen, alles aufgebaut zu haben und dann zu hören: Lockdown. Das Hygienekonzept, das wir für den Hamburger Dom erstellt haben, ist absolut umgreifend. Der Dom dürfte bei Wiedereröffnung die sicherste öffentliche Fläche in Hamburg sein. Es ist immerhin an der frischen Luft.
Es gibt ja durchaus Kritik, wonach es eine Ungleichbehandlung einzelner Branchen gibt: In der Bahn darf man nebeneinander sitzen, im Kino aber nicht. Wie sehen Sie das?
Es gibt sicherlich Dinge, bei denen man sich schon fragt, wie das sein kann. Man darf in eine völlig überfüllte U-Bahn, man darf acht Stunden lang in ein voll besetztes, möglicherweise schlecht belüftetes Büro, aber drei Minuten Autoscooter, das geht nicht. Wie passt das zusammen? Wie kann es sein, dass ich in der Zeit, in der der Sommerdom gelaufen wäre, durch die Spitalerstraße spaziere und mich durch eine Menschenschlange durchdrängeln muss, während der Dom weiter pausieren muss? Da beginnt man schon einiges zu hinterfragen.
Der Dom ist in Hamburg eine historische Institution. Haben Sie den Eindruck, dass das von der Politik wertgeschätzt wird?
Wir haben unzählige Gespräche geführt, auch mit Wirtschaftssenator Michael Westhagemann und Finanzsenator Andreas Dressel. Scheinbar will bloß keiner etwas entscheiden, was sich hinterher als nicht gut herausstellen könnte. Ich denke, im Sommer war der Mut einfach noch nicht da. Nun ist man zwar mutiger, aber der Zeitpunkt könnte erneut der falsche sein, weil einige – offenbar vor allem jüngere Menschen – in der Zwischenzeit etwas übermütig geworden sind und der Herbst und Winter erfahrungsgemäß zu mehr Aufenthalt in geschlossenen Räumen und Infektionen führt.
Wäre es vorstellbar, die Stadt quasi zu einem einzigen, großen Dom zu machen – mit dem Riesenrad am Hafen, der Geisterbahn in Blankenese, der „wilden Maus“ in Ottensen, dem „Dancer“ in Eimsbüttel, dem „Shaker“ in Rahlstedt und der Achterbahn im Stadtpark?
Die Idee klingt vielleicht im ersten Moment verrückt, aber ich glaube, dass das ein begrüßenswerter Gedanke ist. In Nürnberg und München haben sie so etwas gemacht. Da stand eine große Achterbahn vor dem Rathaus. Das Problem ist, dass hier in Hamburg weniger freie Flächen in Innenstadtlage zur Verfügung stehen. Für uns kleine Stände wäre das leichter zu organisieren, für die großen Stände und Attraktionen sieht es natürlich schwieriger aus.
Ist es nur eine Frage der Flächen?
Hamburg ist ein Stadtstaat, das ist alles nicht so einfach. Aber es werden durchaus einige Gedanken durchgespielt. Als mögliche Orte wurde der Platz vor der Fischauktionshalle und der Stadtpark genannt. Da könnte man natürlich auch das Riesenrad, die Achterbahn und vier, fünf Karussells sowie eine Geisterbahn hinstellen. Der Ausblick wäre grandios. Und es wäre eine spannende Alternative. Wir brauchen vor allem frequentierte Flächen, alles andere bringt nichts. Aber der Stadtpark ist ja ein bisschen heilig, mit den Grünflächen …
… es sein denn, die Rolling Stones kommen zu Besuch …
Ganz genau. (lacht) Ich glaube, das würde bei uns wahrscheinlich nicht so schlimm enden wie bei den Stones.
Was bedeutet Ihnen der Dom?
Schausteller zu sein, ist eine Lebenseinstellung. Meine Familie ist seit 1610 in diesem Geschäft. Da wächst man rein, wenn man als Kind in einem Wohnwagen von Stadt zu Stadt reist. Da erfährt man Dinge, die man nicht so einfach erlernen kann, weil man immer dabei war. Ich habe bereits als kleiner Bengel, wenn ich aus der Schule gekommen bin, zugeguckt, wie mein Vater die Bude aufgebaut hat.
Würden Sie sagen, dass Hamburg den Dom derzeit dringender braucht denn je – gerade weil viele Menschen an ähnlichen Problemen zu knabbern haben?
Ich weiß noch aus Erzählungen meines Vaters, und der wusste es noch von seinem Vater: Selbst mitten im Krieg wurden hier in Hamburg Jahrmärkte aufgebaut. Da hat man gesagt: „Die Jungs, die von der Front kommen, sollen unbedingt auf andere Gedanken kommen.“ Dafür waren wir immer da, in Krisenzeiten umso mehr. Viele Menschen kommen auf ganz blöde Gedanken, dann baut sich ein gewisser Frust auf, der kanalisiert werden will. Vielen Jugendlichen fehlt die Möglichkeit zu sagen: „Ich bin der Geilste auf dem Autoscooter.“ Die Römer nannten es „Brot und Spiele“.
Was fehlt Ihnen am meisten am Dom?
Wenn ich mit meinem Wohnwagen zum Dom fahre, sagt mir mein Kopf: Ich fahre nach Hause. Ich bin angekommen. Das ist mein Leben. Mir fehlt das Gefühl, wenn wir am ersten Tag aufmachen, der Geruch von gebrannten Mandeln, Schmalzgebäck und Zuckerwatte in der Luft liegt, wenn die ersten Ansager loslegen und die Gäste mit den Worten „Komm rein hier!“, „Noch eine Runde!“ oder „Gewinne, Gewinne, Gewinne“ begrüßen und bei Laune halten. Damit bin ich groß geworden. Das alles fehlt mir, aber man kann es nur ganz schwer in Worte fassen.
Es ist Ihnen aber ganz gut gelungen.
Für mich ist schon die Winterpause eine Strafe. Ich genieße es, wenn das Jahr mal rum ist und man ein paar Wochen Ruhe hat, aber nach einem Monat werde ich nervös und sehne mich nach dem Rummel. Dieses Leben auf dem Dom ist speziell. Da steckt viel Lebensfreude drin. Ich finde es großartig, wenn die Kinder auf einem Karussell Platz nehmen und ihre Augen leuchten. Das ist für mich der Dom.
Aufstellung der Dom-Stände in der Stadt findet ihr unter www.hamburg-jahrmarkt.de
Mehr Infos unter www.hamburg.de/dom