St. Georg ist ein vielfältiger und chaotischer Stadtteil. Während der Ruf nach Ordnung bei vielen lauter wird, kämpft Michael Joho, Vorsitzender des Einwohnervereins, gegen die Verdrängung
Interview und Fotos: Sophia Herzog
SZENE HAMBURG: Michael, wie ticken die Menschen in St. Georg?
Michael Joho: Lange Zeit galt St. Georg als besonders bunter und toleranter Stadtteil, bedingt durch die Lage direkt am Hauptbahnhof und der Auseinandersetzung mit den sozialen Problemen hier vor Ort. Letzteres ist immer noch der Fall, allerdings hat durch den Bevölkerungswandel im Viertel auch der Druck zugenommen, St. Georg umzumodeln.
Wie zeigt sich der Wandel im Viertel?
Das Einkommen und die Mietpreise lagen hier jahrelang unter dem Hamburger Durchschnitt. Das ist schon lange nicht mehr so, es sind in den letzten Jahren viele besserverdienende Menschen hergezogen. Mit einem mittleren Einkommen von rund 45.000 Euro im Jahr verdienen die Menschen in St. Georg inzwischen deutlich mehr als der Hamburger Durchschnitt.
Der Mietpreis ist hier so hoch wie in Hoheluft. St. Georg ist dadurch ein Stadtteil geworden, der für viele unbezahlbar ist. Hier am Hansaplatz sind inzwischen rund ein Drittel des Wohnraums Eigentumswohnungen, die vor Jahren günstig erworben wurden und im Wert zwischenzeitig massiv zugelegt haben.
Und deren Bewohner wollen in Ruhe ihren Wohnsitz genießen?
Genau. Aber, von den ursprünglichen günstigen Eigentumspreisen mal abgesehen, warum zieht man denn überhaupt in ein Viertel, von dem man weiß, dass es mit den typischen Problemen eines Bahnhofsviertels zu kämpfen hat, und will dann, dass alle Störer sofort verschwinden? Das halte ich allein moralisch für daneben.
Welche Bedeutung hat der Hauptbahnhof denn für St. Georg?
Wenn Menschen in einer Stadt stranden, dann erst mal am Hauptbahnhof. Für Obdachlose oder Drogenabhängige, Menschen, die entwurzelt sind, die einsam sind, ist St. Georg seit Jahrzehnten Heimstatt. Auch Prostitution hat im Hauptbahnhofumfeld natürlich eine lange Tradition.
Der Hauptbahnhof ist nun mal Lebensmittelpunkt für Hunderte, wenn nicht einige Tausend Menschen. Das müssen Stadt- und Bahnhofsmanagement endlich anerkennen – und durch geeignete Maßnahmen flankieren. Und damit meine ich nicht die Verdrängung der Szenen ins benachbarte Wohnquartier St. Georg.
Die Welt direkt vor der Haustür
Ist das Viertel Abbild einer Zweiklassengesellschaft?
Die hat es hier schon immer gegeben. Aber die Widersprüche und Gegensätze sind größer geworden. Einkommensdurchschnitt und Mieten steigen, aber auch die Armut wird hier größer – und sichtbarer. Was wiederum manches bürgerliche Näschen stört.
Was macht St. Georg für dich trotzdem lebenswert?
Die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit. Hier leben viele verschiedene Nationen und Religionen nebeneinander. Ich muss das Viertel nicht verlassen, sondern nur vor meine Haustür treten, um die Welt kennenzulernen oder die Probleme der Welt zu erkennen. Aber ich kann auch Lösungen mitgestalten, um diese Probleme anzugehen. Ganz zentral sind für mich auch die Menschen, die sich im Viertel engagieren und nicht verdrängen lassen.
Und davon gibt es in St. Georg einige …
Ja, es gibt hier schon überdurchschnittlich viele Menschen, die sich engagieren. Das kommt mir entgegen, ich habe hier sozusagen Brüder und Schwestern im Geiste gefunden. Im Kreis der Menschen, die sich sehr für das Viertel einsetzen, gibt es ein ungeschriebenes Gesetz. Wenn einer wegziehen muss, weil er mehr Platz braucht oder die Miete nicht mehr stemmen kann, dann gibt es viel gegenseitige Unterstützung, auch dahin, vielleicht doch noch eine bedarfsgerechte, bezahlbare Wohnung zu bekommen.
Wenn nichts hilft, muss eben der Umzug mitorganisiert werden. Diese Art von Zusammenhalt ist ein wichtiges Motiv, das Leben im Bahnhofsviertel nicht nur zu ertragen und zu erdulden, sondern es auch menschengerecht zu beeinflussen und zu gestalten.
„Wir sind gegen die Verdrängung“
Setzt sich dafür auch der Einwohnerverein ein?
Seit der Gründung 1987 stehen wir dafür ein, das Neben- und Miteinander zu organisieren. Das ist aber mit der Aufwertung des Viertels zunehmend schwerer geworden. In den 90er Jahren fuhr die Politik ein Konzept, nachdem der Hauptbahnhof aufgeräumt und zur „Visitenkarte Hamburgs“ gemacht werden sollte.
Das heißt was?
Hier kommen täglich Hunderttausende Leute an und stolpern dann hier und da erst mal über Bettler oder drogenabhängige Menschen. Der Begriff der Visitenkarte wird zwar nicht mehr so häufig verwendet, das Prinzip wird aber immer noch verfolgt.
St. Georg soll heute und in Zukunft schickisiert werden. Wir sind gegen die Verdrängung, und möchten auch den Menschen, denen es schlecht geht, die ausgegrenzt und benachteiligt sind, einen Anlaufpunkt und Aufenthaltsort bieten. Auch im Hauptbahnhofviertel.
Das Stichwort Verdrängung fällt häufig bei der Diskussion um den Hansaplatz, der als besondere Problemzone im Viertel gilt. Jetzt installiert die Polizei dort 22 Kameras. Ist das der richtige Ansatz?
Nein, natürlich nicht. In der Politik und unter einigen Anwohnern herrscht der Glaube, dass mit den Kameras die Probleme vor Ort einfach verschwinden. Das ist Quatsch. Ein Drogenabhängiger verzichtet nicht auf seinen Schuss, nur weil auf dem Hansaplatz jetzt Kameras installiert sind. Der geht dann einfach ein, zwei Straßen weiter. Probleme wie Prostitution, Drogen und Ruhestörung lösen sich dadurch nicht, die werden, wenn überhaupt, nur verlagert.
Videodatenspeicherung ist bei vielen Hamburgern sowieso ein wunder Punkt, seitdem sich Politik und Polizei weigern, den biometrische Datenabgleich mit dem G20-Material zu unterlassen …
Ja, Datenschutz ist auch ein großer Kritikpunkt. Niemand weiß, wo die Daten landen. Bei einigen Anwohnern steht der Pfosten mit der Kamera außerdem direkt vor den Wohnungsfenstern. Die Bilder in Richtung der Wohnhäuser sollen zwar verpixelt werden, ein mulmiges Gefühl hinterlässt das trotzdem.
Statt Überwachung und Verdrängung wären soziale Maßnahmen, das Schaffen einer Anlaufstelle für junge Geflüchtete zum Beispiel, viel sinnvoller. Klar, das braucht Geld. Aber die Kameras und ihr Betreibung kosten auch eine Million.
Die Polizei fährt hier stündlich Streife und ist auch zu Fuß unterwegs. Was macht diese Präsenz mit dem Stadtteil?
Schaut man nach St. Pauli oder in die Schanze, gibt es dort eine sehr polizeikritische Grundhaltung. Das ist in St. Georg in größeren Teilen der Bevölkerung anders. Den meisten gibt die Polizeipräsenz ein subjektives Sicherheitsgefühl. Doch eine erhöhte Kontrolle wie der Einsatz von noch mehr Beamten, oder erst recht durch eine Videoobservierung, ist höchst fragwürdig.
Wir haben hier in St. Georg bereits die höchste Polizistendichte Europas, und das schon seit den 90er Jahren. Statt diese noch weiter zu erhöhen, ist Ursachenbekämpfung, also zum Beispiel das Schaffen von Wohnraum für Obdachlose, viel nötiger und nachhaltiger. Um die sozialen Probleme zu lösen, brauchen wir alternative Konzepte.
Lässt sich das an einem Beispiel vertiefen?
Wir vom Einwohnerverein fordern zum Beispiel schon seit Jahr und Tag eine Anlaufstelle für junge Geflüchtete, um sie aufzufangen und ihnen Beschäftigungsmöglichkeiten zu geben. Sie halten sich am Hansaplatz und am Hauptbahnhof vermehrt auf, weil sie hier ihre Leute treffen. Was sollen sie auch sonst mit ihrer Zeit anfangen? Sie leben teilweise in unzureichenden Unterkünften, dürfen nicht arbeiten.
Anlaufstellen wie diese brauchen wir für jede an den Rand gedrängte Gruppe. Dinge, die wir hier anpacken können, lösen zwar nicht die großen Probleme unserer Zeit, aber sie tragen zur Entschärfung bei.
Einwohnerverein St. Georg: Hansaplatz 9
Dieser Text stammt aus SZENE HAMBURG, Juli 2019. Titelthema: Schmelztiegel St. Georg.
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