„Fälle und Fallen“: Der schöne Eigensinn von Worten

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Wolfgang Hegewald siedelte aus der DDR nach Hamburg über, weil ihm die Publikation seiner Arbeiten verwehrt wurde (Foto: Roman Pwalowski)

In „Fälle und Fallen“ entwirft Wolfgang Hegewald 20 vor Sprachlust übersprudelnde Capriccios

Text & Interview: Ulrich Thiele

Der Straßenhund Enrico will Opernsänger werden, aber daraus wird nichts. Am Ende schlägt er eine alternative Musikerkarriere ein und spielt in einem Krankenwagen das Martinshorn in den Straßen von „New Hamburg“. In einem anderen Capriccio erfährt man, dass Mittelmeergrillen, sobald sie zu zirpen beginnen, automatisch ihr Gehör ausschalten. „Was für eine durchtriebene Selbstoptimierung dieser mit scharfem Schall bewaffneten Krieger aus dem Süden!“ Auf einem Festball gehen die jungen Leute mit der Mode und zeigen sich „mit Vorliebe in der Tracht der Prügel“. Das sind nur wenige Beispiele aus Wolfgang Hegewalds kurzen, ungeheuer lustigen Capriccios.

SZENE HAMBURG: Herr Hegewald, was ist ein Capriccio?

Wolfgang Hegewald: Die Tradition des Capriccios findet sich eher in der Musik und in der Bildenden Kunst als
in der Literatur, wiewohl ein veritabler Meister wie E.T.A. Hoffmann da sofort missbilligend den Kopf schüttelt, zu Recht. Ich denke an Paganini und seine Capriccios; überbordende und zugleich formbewusste Virtuosität. Primat des Spiels vor der Bedeutung. Ich denke an Tiepolo und Goya, gerade noch in der Kunsthalle zu sehen.

Szenen, die einem durch ihre abgründige Mehrdeutigkeit zu denken geben. Elemente des Alltäglichen, Burlesken, Grotesken, Skurrilen und Fantastischen verquicken sich zu Tableaus, in denen sich auf ästhetische Weise ein Aufklärungsinteresse zu erkennen gibt. Aufklärungsinteresse auch an dem, was kategorisch unaufklärbar ist.

Cover-HegewaldWarum haben Sie diese Form gewählt?

Mir und meinem Schreiben entsprechen diese auskristallisierten Prosakobolde, die mal spielerisch, auch sprach- spielerisch, mal scharfkantig boshaft daherkommen. Bei Julio Cortázar heißt es einmal sinngemäß, das Fantastische sei eine Möglichkeit, das Wirkliche zu überprüfen.

Im ersten Capriccio heißt es: „Capriccios neigen nicht zur Flucht. Wohin auch.“ Sie mit einem Zaun, einer Form zu umschließen, sei deswegen sinnlos. Warum?

Capriccios neigen weder zur Sesshaftigkeit noch respektieren sie ihnen angewiesene Territorien. Sie einsperren zu wollen, ist sinnlos; ein Kategorienfehler der Verhaftung. Günter Eich hat Prosagedichte mit dem Untertitel „Maulwürfe“ veröffentlich. Da deutet sich womöglich eine Verwandtschaft an.

Sie haben Ihrem Buch ein Zitat von Samuel Beckett vorangestellt: „Bei den Ausdrücken ‚historische Notwendigkeit‘ und ‚deutsches Schicksal‘ kommt mir das Kotzen.“ Beckett verliebte sich zugleich in die deutsche Sprache. Ihre Sprachspiele zeugen auch von Freude an der deutschen Sprache – teilen Sie das gespaltene Verhältnis Becketts zu Deutschland?

Ich habe eine doppel-deutsche Biografie und kann Deutschland nicht im Singular denken. Deutschland an sich bedeutet mir nichts. Eine offene Gesellschaft, ein Rechtsstaat auf deutschem Boden eine Menge. Und die deutsche Sprache, das „portative Vaterland“, wie Heinrich Heine sagte, ist der einzige Heimatbegriff, an dem ich hänge. Als ich 1983 aus der DDR in die Bundesrepublik kam, habe ich mich aus Gründen der semantischen Präzision nie als Flüchtling rubriziert. Ich habe meine Sprache nicht verloren, und ich trat sofort in eine komfortable Staatsbürgerschaft ein.

Wird deswegen in Ihren Capriccios immer wieder völkisches Denken verspottet?

Wir sind, auch schon vor und jenseits von Corona, in eine Zeit geraten, in der allenthalben im Gemeinwesen und in der Welt tektonische Risse und Verwerfungen sichtbar und spürbar werden, Horizonteintrübungen und -verdunkelungen, für die wir noch keine Begriffe haben.

Schreiben heißt für mich auch und nicht zuletzt, dass ich ein spezifisches Erkenntnisinteresse verfolge, das mit den Mitteln und Möglichkeiten der Poesie agiert. In undeutlichen Zeiten scheint mir eine Form wie das Capriccio besonders dazu zu taugen.

„Das Groteske ist für mich Stilhaltung und Ausdrucksmittel“

Wolfgang Hegewald

Ist Sprache per se anti-identitär?

Ja! Literatur ist für mich in Sprache modellierte Menschheitserfahrung, die nie eindeutig ist. Ansonsten haben kluge Leute schon alles Nötige gesagt: Für Adorno ist Identität die Urform von Ideologie. Bei Lothar Baier las ich einst, im Begriff der Identität gäben sich Biologismus und Polizeisprache ein Stelldichein.

Können Rechte Humor haben?

Keine Ahnung. Komik als existentielle Kategorie, wie bei Kafka, Robert Walser oder Chaplin, eher nicht.

Ihre Capriccios sind oft irritierend grotesk. Was kann die Irritation bewirken oder ist sie bloßer Selbstzweck?

Das Groteske ist für mich Stilhaltung und Ausdrucksmittel, nicht Selbstzweck. Wenn Irritation bedeuten soll, die Leser lassen für die Dauer ihrer Lektüre einmal das Gängelband ihrer Sprachkonventionalität locker und beginnen zu staunen – warum nicht. Wir sind alle von Kindheit an sprachdressiert und auf Bedeutung und Sinn getrimmt und wenig darin geübt, den schönen Eigensinn von Worten und Sätzen zu entdecken.

Mögen Sie Ihren Humor?

In diese Falle, die Sie meinem Narzissmus stellen, tappe ich nicht!

Wolfgang Hegewald: „Fälle und Fallen“, Wallstein, 79 Seiten, 16 Euro


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, April 2020. Das Magazin ist seit dem 28. März 2020 im Handel und  auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich! 

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