Dienstagabend, der 18. Januar 2022 Januar, es ist kalt und kaum hat man das Jolly Roger an der Budapester Straße passiert, scheint das hell erleuchtete Millerntor zwischen den Gebäuden hervor. Um kurz nach 19 Uhr ist noch wenig los. Nur vor dem Jolly stehen schon einige Fans und singen sich warm. Erst am 12. Januar 2022 hatte die Behörde für Inneres und Sport beschlossen, dass überhaupt nur 2.000 Zuschauer:innen beim DFB-Pokal-Spiel dabei sein dürfen. Ein Spiel gegen den mittlerweile fast ewigen Tabellenzweiten der 1. Bundesliga der Männer. Ein Team, dessen Topstars wahrscheinlich mehr verdienen als die ganze Mannschaft des FC St. Pauli: Borussia Dortmund.
Die Tickets waren erst einen Tag vor Spieltag online verkauft worden. Nur Dauerkartenbesitzer:innen hatten die Möglichkeit einer von 2.000 zu sein. Bis zu 50 Euro kostete ein Ticket für den Sitzplatz auf der Haupttribüne.
„Ich mag aber Süßigkeiten“
Um 19.10 Uhr, eine für St. Pauli-Fans gute Uhrzeit – der Verein wurde im Jahr 1910 gegründet – weist der Ordner schon 100 Meter vor dem Stadion darauf hin: „Ab hier ist Maskenpflicht.“ Die gilt überall und immer, auch am Platz. Vor dem Stadion folgen dann die mittlerweile gewohnten Kontrollen: Impfnachweis (es gilt 2G-Plus), Ticket- und Taschenkontrolle. Nach einem kurzen Schnack mit der Verkäuferin am Getränkestand geht es auf die Haupttribüne. Ungewohnt für einen, der sich normalerweise auf der Gegengerade drängelt: Hier gibt es nur Sitzplätze, in der teuren Sektion sind es nicht mal mehr Plastikschalen, die Sitze haben einen lederartigen Überzug.
Während das Getränk die Kehle herunterläuft, füllt sich das Stadion. „Das Spiel am Freitag gegen die aus Stellingen (Anm. d. Red. den HSV) ist wichtiger, das heute ist ein Bonbon“, sagt einer. „Ich mag aber Süßigkeiten“, erwidert der Nächste. An den Sieg gegen den BVB, den achtmaligen Deutschen Meister, glauben nicht viele. Doch es gibt da so ein Gefühl: „Es wird gut werden“.
Ein frühes Tor
Das Spiel beginnt. Schon früh bringt Etienne Amenyido den FC St. Pauli mit 1:0 in Führung. Der laute Jubelschrei dürfte sogar noch jenseits der Elbe zu hören gewesen sein. 1:0 nach vier Minuten gegen den BVB, mit einer so frühen Führung haben wahrscheinlich die wenigsten gerechnet. Jetzt entwickelt sich ein normales Spiel am Millerntor: Das Team kämpft, die fans singen, feuern an, schreien und zittern. Nur beim Blick auf die leere Gegengerade fällt auf: Hier ist leider nicht alles normal.
Erst recht nicht, nachdem in der 40. Minute St. Paulis Guido Burgstaller eine Flanke flach vors Tor bringt und Axel Witsel für den BVB ins eigene Tor trifft. 2:0, dem Jubel mischt sich Ungläubigkeit unter: „Wir führen gerade 2:0 gegen Dortmund? Wahnsinn!“. In der Halbzeit bei Bier, Wurst und auf dem Klo hört man Sätze wie: „Einfach ein geiles Spiel“ und „Die kommen nicht mehr zurück“.
„Niemand siegt am Millerntor“
Das Spiel geht in der zweiten Halbzeit so weiter, wie es in der Ersten aufgehört hat: Dortmund versucht sich nach vorne zu kombinieren. Doch egal, ob ein Hackentrick von Jude Bellingham, der bullige Erling Haaland oder ein Traumpass vom Weltmeister Mats Hummels, nichts scheint zu funktionieren – bis zur 58. Minute: Mats Hummels schießt St. Pauli Verteidiger Jakov Medic aus einem Meter im Strafraum den Ball an den ausgestreckten Arm. Videobeweis: Elfmeter für Dortmund, 2:1 durch Erling Haaland. Sein 79. Tor im 78. Spiel für den BVB. Wer bis dahin noch gesessen hat, den hält es ab jetzt garantiert nicht mehr auf seinem Platz. Dortmund rennt an und spielt sich den Ball vor dem Strafraum des FC St. Pauli hin und her, ohne Erfolg. Wer davor noch mit leicht zitternder Stimme „Niemand siegt am Millerntor“ gesungen hat, wird jetzt sicherer.
Ein Feuerwerk für den FC St. Pauli
Mit dem Schlusspfiff dann die Gewissheit: „Wir haben den Titelverteidiger aus dem Pokal geschmissen.“ Der Jubel kennt jetzt weder Grenzen noch Abstandsregeln. „Die ganze Kurve singt und tanzt für Dich. Unser Ein und Alles. Ja, wir lieben Dich.“, schallt es durchs Stadion. Nahezu alle liegen sich in den Armen und draußen auf dem Heiligengeistfeld gibt es ein Feuerwerk.
Ein Abend, der 2.000 Menschen ein unvergessliches Lächeln ins Gesicht gezaubert hat. Während nach dem Spiel auch Zuschauer Bela B mit dem Stadionsprecher von Werder Bremen und Journalist Arnd Zeigler auf den Sieg anstößt, bleibt ein Satz im Kopf, den ein Spieler nach dem Spiel im Interview sagt: „Das ist für die Fans, die heute nicht dabei sein konnten.“