Filmkritik: „Sterben“


Matthias Glasners „Sterben“ mit Lars Eidinger und Corinna Harfouch in den Hauptrollen ist ein faszinierendes Drei-Stunden-Epos über eine dysfunktionale Familie
Dirigent Tom (Lars Eidinger) schreibt die Symphonie seines Lebens mit dem passenden Titel „Sterben“ (©Jakub Bejnarowicz/Port au Prince/Schwarzweiss/Senator)

Es ist eine Szene, die kaum zu ertragen ist: An einem karg gedeckten Kaffeetisch sitzen sich Tom (Lars Eidinger) und seine Mutter Lissy (Corinna Harfouch) gegenüber. Mehr als 20 lange Minuten reden sie, redet vor allem Lissy, dass sie ihren Sohn nie geliebt hat, er einmal von der Wickelkommode gefallen ist, vielleicht hat sie ihn auch geworfen, und sie fortan Sorge hatte, er könnte bleibende Schäden davongetragen haben. Und Tom muss schmerzlich feststellen, dass er von seiner Mutter wohl nicht nur das musikalische Talent, sondern auch eine gewisse emotionale Kälte geerbt hat. Es ist eine der eindrücklichsten Szenen in Matthias Glasners Drei-Stunden-Werk, das auf der diesjährigen Berlinale im Wettbewerb lief, aber definitiv nicht die einzige, in denen Glasner eine ungewöhnliche Balance zwischen Komik und Tragik gelingt.

„Sterben“: Ein Matthias Glasner Film , der dem Ende ganz nah scheint

„Sterben“ ab dem 25. April im Kino (©Port au Prince/Schwarzweiss/Senator)

Tom ist ein erfolgreicher Dirigent in Berlin, der gerade mit einem jungen Orchester ein Monumentalstück seines depressiven Freundes Bernard (Robert Gwisdek) probt. Es heißt Sterben. Zudem ist er gerade sozialer Vater des Kindes seiner Ex-Freundin geworden. Seine Mutter Lissy kämpft im weit entfernten Niedersachsen mit der Demenz und Parkinson-Erkrankung ihres Mannes Gerd (Hans-Uwe Bauer) und dem eigenen Siechtum. Und Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) ertränkt ihren Selbsthass in Alkohol, einer Affäre mit ihrem verheirateten Chef Sebastian (Roland Zehrfeld) und hat einen Job gewählt, in dem sie von den meisten gehasst wird: Zahnarztassistentin.

Glasner porträtiert diese dysfunktionale Familie, angelegt an seine eigene, in mehreren Kapiteln, in denen er jeweils aus den verschiedenen Perspektiven erzählt. Dabei schafft er bei aller Schwere eine seltsame Leichtigkeit. Den demütigen Unzulänglichkeiten der kranken Eltern begegnet er ohne Scheu, die von Ellens Hustenanfall torpedierte Premiere des Musikwerkes inszeniert er mit Ruben-Östlund-Fremdschäm-Qualitäten. Ein großartiger, bewegender Film mit einem bemerkenswerten Cast, der trotz seiner Länge niemals langweilig wird.

„Sterben“, Regie: Matthias Glasner. Mit Lars Eidinger, Corinna Harfouch und Lilith Stangenberg, 180 Min. Ab dem 25. April 2024 im Kino

Hier gibt’s den Trailer zum Film:

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Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 04/2024 erschienen.

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