Patti Smith war ziemlich genervt von Franz Gertsch. Zumindest als sie 1977 in einer Kölner Galerie an den Lyriker Arthur Rimbaud erinnerte. Sie trug seine Gedichte vor, sang und feierte ihn – und Gertsch stand ganz vorne und fotografierte sie. Unablässig machte es klick, bis sie irgendwann das Blatt Papier, das sie gerade in der Hand hielt, zusammenknüllte und in seine Richtung warf.
Seit er das Porträt gesehen hatte, das Robert Mapplethorpe 1975 für ihr berühmtes „Horses“-Plattencover gemacht hatte, sei er von ihrem Gesicht fasziniert gewesen, sagte Gertsch in einem Interview. Und schließlich wohl auch von ihrer Nonchalance. Denn mit gleich fünf großen Gemälden gehört seine Serie von Patti Smith zu den umfassendsten seines Werks. Auf Leinwänden, die fast drei Meter hoch und mehr als vier Meter breit sind, ist Patti Smith in fast nebensächlich erscheinenden Posen während ihres Kölner Auftritts zu sehen. Wie sie lachend am Mikro steht, mit der Gitarre vor ihrem Verstärker hockt – und auch, wie sie das Papier zusammenknüllt und Richtung Gertsch schaut. Wütend war sie da, aber nachtragend war sie nicht. Denn ein Jahr später besuchte sie ihn in seinem Atelier und es entstanden weitere Aufnahmen.
Franz Gertschs Werke wirken wie Fotografien

Dass Gertsch Künstler werden wollte, das wusste er schon als Kind. Aber erst mit 40 Jahren habe er seinen Stil gefunden, hat er in einem Interview gesagt. Realistisch wollte er schon lange malen, schließlich waren die 60er- und 70er-Jahre eine Aufbruchszeit, an der man sich gar nicht sattsehen konnte. Und er wollte sie mit Lust malen und ohne sich dabei um Formfragen zu scheren. Deshalb ordnete er sich ganz der Fotografie und einer Malerei, die zeigt, was wirklich ist. Nutzte er dafür noch Fotografien aus Zeitschriften, begann er bald, selbst zu fotografieren und projizierte die Motive riesengroß auf seine Leinwand. Vier mal sechs Meter sind seine Arbeiten, zwei mal drei Meter, drei Meter mal vier Meter.
Die Formate sind so enorm wie elementar. Und das nicht nur, weil man in die Bilder eintauchen soll, sondern vor allem auch, weil Nähe und Distanz eine so wichtige Rolle spielen. Wirkt das Gemalte aus der Ferne wie eine Fotografie, sieht man beim Nähertreten die Pinselstriche, Texturen und Lichtpunkte, kann das kleinste Detail studieren – und gleichzeitig löst sich das Bildmotiv auf. Doch man muss erst einmal ein Museum finden, in dem sich die riesigen Leinwände entfalten können. Und dafür sind die Deichtorhallen natürlich ideal. 62 Werke sind dort zu sehen und damit Zwei Drittel des Gesamtwerks von Gertsch. Gerade mal 20 mal 20 Zentimeter schaffte er an einem Tag zu malen. An den meisten Bilder arbeitete er fast ein Jahr und auch der Holzschnitt, den er später perfektionierte, war sehr zeitaufwendig.
Frühe und späte Arbeiten von Franz Gertsch in den Deichtorhallen

Weitläufig führt die Ausstellung durch das Werk von Gertsch. Zeigt frühe und späte Arbeiten, Videos und Materialien. Doch den Kern bilden seine Bilder aus den 1970er-Jahren. Und sie faszinieren auch am meisten. Sein Blick auf Patti Smith. Und auf den Schweizer Künstler Luciano Castelli (*1951), der eine schillernde Figur der Luzerner Kunstszene war, in die Gertsch mit seiner Kamera eintauchte. Wesentlich jünger und exaltierter als er selbst waren die Bohemians und boten so den nötigen Abstand für seinen Realismus. Luciano mit langem Haar und verträumtem Blick, Luciano mit Tellern voller Zigarettenkippen, Luciano, wie er von der Freundin Marina geschminkt wird, die Augen wie Sonnen bemalt und mit knallroten Lippen. Neben Patti Smith ist er der wichtigste Protagonist auf den Bildern von Gertsch, die umwerfend frisch und aktuell wirken.
Immer wieder wird beschworen, wie sie „das Lebensgefühl einer Generation“ einfangen. Und es ist eine spannende Idee, dass im hinteren Teil der Ausstellungshalle in einer kleinen Übersichtsschau unter anderem Fotografien von Nan Goldin zu sehen sind, die einen schönen Kontrast bilden und trotzdem nah dran sind. Besonders aber leuchtet das ikonische Bild, mit dem Gertsch 1972 zur documenta 5 eingeladen wurde. Mit „Medici“, diesem energetischen und fast frechen Gemälde, das Luciano Castelli und vier andere Männer zeigt, die sich auf eine Baulatte lehnen und den Vibe der Siebziger ins Museum bringen, unbeschwert, in Jeans, mit langen Haaren und ausgetretenen Schuhen – und einem Augenzwinkern im Titel, der es ausgelassen in die Hochkunst einreiht. Und dabei gleichzeitig auf den Firmennamen verweist, der auf die Holzlatte gepinselt ist.
Ruhige Porträts zeichnen die späteren Jahre von Franz Gertsch

Zu seinem späteren Werk führen schließlich Porträts, ruhig und klassisch, die in größter Präzision junge Frauen wie Johanna zeigen. Es sei nur ein kleiner Sprung von den Frauenporträts zu den Landschaften gewesen, sagte Gertsch, der zu der Zeit bereits im Voralpenland lebte. Gerade Details wie Johannas Haare seien in der Vergrößerung schon landschaftliche Motive. Ganz wie die Gräser, denen er sich widmet und dem Holzschnitt mit seinen kleinen Kerben. Alles das ist in der Schau zu sehen, manches Werkzeug inklusive. Gertsch selbst hat an der Konzeption der Schau noch mitgearbeitet. Und sie „Blow-Up“ genannt. Nach Antonionis gleichnamigem Kultfilm, der um den Wahrheitsgehalt von Fotografie kreist, um das Sehen selbst und die Vergrößerung. Das ist alles nicht nur für Gertschs Werk essenziell, sondern auch in einer Zeit interessant, in der man der Echtheit von Bildern schon lange nicht mehr trauen kann.
Franz Gertsch: Blow-Up. Eine Retrospektive, Deichtorhallen, bis zum 4. Mai 2025
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 02/2025 erschienen.