Franz Wittenbrink: Der ungekrönte „König der Liederabende“

Im August feierte der ungekrönte „König der Liederabende“ Franz Wittenbrink seinen 75. Geburtstag. Aus diesem Anlass zeigt das St. Pauli Theater unter dem Titel „Lust auf St. Pauli“ ein Best-of der Kiez-Trilogie „Lust“, „Nacht-Tankstelle“ und „Ricky“
Sie gibt es nur noch auf der Bühne: Die „Nacht-Tankstelle“ ist Teil der Kiez-Trilogie (©Hanno Koop)

SZENE HAMBURG: Herr Wittenbrink, mit Ihren inzwischen mehr als 40 szenischen Liederabenden – dieses Theatergenre haben Sie Anfang der 1990er-Jahre quasi erfunden – waren Sie an allen großen Bühnen im deutschsprachigen Raum präsent und sind zum Liebling von Kritikern und Publikum avanciert. Wie entgeht man der Routine, wenn alles immer läuft wie am Schnürchen?

Franz Wittenbrink: Ich habe aus meiner eigenen Lust und Neugier heraus nebenher immer auch Sachen gemacht, die nicht mit meiner Mainstream-Tätigkeit verbunden waren. Acht Jahre arbeite ich jetzt zum Beispiel schon mit dem Kammermusik-Quartett Salut Salon zusammen. Damals waren sie noch ein Hamburger Geheimtipp, heute spielt dieses Frauenpowerpaket auf der ganzen Welt.

Frauenpower spielte in ihrer Künstlerbiografie öfter eine Rolle …

Ja, in meiner Off-Theater-Zeit habe ich mit der ursprünglich feministischen, dann aber feminismusideologiekritischen Formation Erosatanisches Damenkabarett Paranoia mit der Knabenkapelle Gletscherspalte – das war ich –, zusammengearbeitet. Das dürfte man heute gar nicht mehr bringen.

Musik war immer ein Trostpunkt für mich, eine Heimat, die ich selbst bestimmt habe.

Franz Wittenbrink

Dann kamen 1995 die „Sekretärinnen“ im Deutschen Schauspielhaus. Ihr großer Durchbruch …

Bei „Sekretärinnen“ lautete der Subtext für mich: Wir halten mal den Stand und Erfolg der feministischen Bewegung fest. Ich wollte mit ganz freundlichem Auge gucken, was an Selbstständigkeit behauptet und davon tatsächlich eingelöst wird.

Neue Geschichten und der Kommunismus

Auch mit Ihrem Abend über Bertolt Brecht „Die Farbe Rot“ am Berliner Ensemble haben Sie sich für Frauen stark gemacht: jene, die unter der patriarchalen Dominanz des Dichters und Dramatikers leiden mussten …

Das mochte Brechts Tochter überhaupt nicht. Die hat nach einigen Monaten die Aufführungen verboten.

Das klingt dann doch nicht nach Routine …

Ich habe immer versucht, neue Geschichten zu erzählen und Figuren zu zeigen, die in sich widersprüchlich sind. Ich habe auch politische Abende gemacht, die mit meiner eigenen Biografie zu tun haben. Bei „Brüder – Zur Sonne – Zur Freiheit“ standen für mich die Anliegen der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften im Zentrum, die ich sehr unterstütze, und meine klare Abgrenzung gegen den Stalinismus und Extremismus.

Eine Abrechnung mit Ihrer linken Vergangenheit? Sie waren 1973 Mitbegründer des Kommunistischen Bundes Westdeutschland …

Da habe ich mir im Nachhinein viele Fragen gestellt. Wie konnte ich zum Beispiel mehrere Tage Robert Mugabe, den Diktator von Simbabwe – ein Massenmörder, Schlächter und Blutsäufer – in meiner Wohnung beherbergen, wobei ich ihn auch noch bewundert habe? Wir haben auch Grußbotschaften an Pol Pot geschickt, eine ganze Delegation nach Kambodscha fliegen lassen und nachher behauptet, der Mann tue alles für sein Volk. Da fasse ich mich heute wirklich an den Kopf und bin heilfroh, dass unsere damaligen Ziele nicht verwirklicht wurden, sonst würden wir heute nicht so schön, lustig und frei leben.

Seinen historischen Flügel stimmt er selbst: Franz Wittenbrink (©Bertold Fabricius)

„Ihr kriegt mich nicht klein!“

Schöpfen Sie viele Bühnenthemen aus Ihrer eigenen Biografie?

Ja, weil sie schon sehr verrückt ist und mich an das gesamte Spektrum der Gesellschaft geführt hat. Ich stand in einer Traktorenfabrik am Fließband, war Staplerfahrer, Klavierbauer. Aufgewachsen bin ich in einer erzkatholischen Familie mit zwölf Geschwistern und einem Vater, der uns ständig durchgeprügelt hat. Da habe ich schon als kleines Kind Widerstandsformen gefunden. Dieser Instinkt „Ihr kriegt mich nicht klein!“ sitzt bis heute tief in mir drin, aber durchaus lustvoll und ohne Boshaftigkeit. Als Berufsrevoluzzer wäre ich wirklich fehl am Platz.

War eine dieser Widerstandsformen die Musik?

Musik war immer ein Trostpunkt für mich, eine Heimat, die ich selbst bestimmt habe. Das hat mir wahnsinnig geholfen, auch während meiner Zeit im Musikinternat der Regensburger Domspatzen. Ich bin ja sozusagen im „weichen“ Sinne sexuell missbraucht worden. Sich nackt ausziehen zu müssen, um sich von einem 22-jährigen Präfekten verprügeln zu lassen, war schon immer sehr semisexuell. Aber ich wusste auch von den Armen, die wirklich hart missbraucht worden sind. Das habe ich nur durchgestanden, weil ich diesen eisernen Willen hatte.

Wandel als Befreiung

Warum haben Sie nach der Schulzeit nicht weiter musiziert?

Ich hatte einen Platz in der Meisterklasse Klavier an der Musikhochschule München, stand also an der Startrampe für eine ordentliche Karriere. Aber ich wollte lieber komponieren oder dirigieren. Ende der 1960er-Jahre war jedoch die Hochblüte der atonalen Komponistengruppe um Stockhausen, Berio und Kagel, die die klassische ernste Musik komplett dominiert hat. Hätte ich zu diesem Zeitpunkt begonnen, tonale Musik mit Herz zu schreiben, hätte ich auf dem Markt nicht die geringste Chance gehabt.

Der Kiez ist ein Konglomerat aus merkwürdigen Gestalten

Franz Wittenbrink

Der Zeitgeist hat sich zum Glück gewandelt …

… was sich wie eine Befreiung anfühlt. Man kann wieder seriöse und anerkannte Musik machen, ohne einer bestimmten Schule verpflichtet zu sein. Inzwischen ist meine Haupttätigkeit ja das Komponieren für großes Opernorchester, und ich bin total glücklich, weil ich jetzt endlich da gelandet bin, wo ich ursprünglich einmal hinwollte. Für das Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz habe ich den „Pumuckl“ gemacht, in Wien „Jeder stirbt für sich allein“. Dann wurde ich von der Komischen Oper in Berlin engagiert, um die Kinderoper „Pippi Langstrumpf“ zu schreiben. Jetzt sitze ich an dem Folgeauftrag: „Die kleine Hexe“ nach Otfried Preußler.

„Wir haben die letzte der originalen Zapfsäulen“

Das St. Pauli Theater feiert Ihren Geburtstag mit einem Best-of Ihrer in den Jahren 2006 bis 2012 entstandenen Kiez-Trilogie bestehend aus den Stücken „Lust“, „Nacht-Tankstelle“ und „Ricky“. Was reizt Sie an der Reeperbahn?

Der Kiez ist ein Konglomerat aus merkwürdigen Gestalten, von teilweise aus der Gesellschaft ausgeschlossenen, aber doch attraktiv wirkenden Figuren. Mit den drei Stücken wollte ich hinter den sehr oberflächlichen Glamour gucken. Deshalb gibt es in meiner Table-Dance-Bar keine Table-Dancer, sondern Putzfrauen, die morgens um fünf die Reste dieses zum Teil nicht gerade hochästhetischen Lustgeschäfts beseitigen. Das ist der Teil der Kiez-Trilogie, der aus Sicht der Frauen erzählt wird.

Das Pendant ist dann „Ricky“?

„Ricky“ wirft in Anlehnung an das „Rocky“-Musical einen männlichen Blick auf das Boxermilieu in der Kultkneipe „Ritze“. Ich zeige Männer, die sich an einem starken Vorbild abrackern und es nie erreichen – also die Würstchen, denen meine Liebe gehört. Ich betreibe ja nie Generalvernichtung, sondern versuche selbst an dem blödesten Kerl noch irgendwas zu finden, was reizvoll, interessant, schön oder berührend ist.

In gewisser Weise von der Geschichte überholt wurde die „Nacht-Tankstelle“. Das reale Vorbild, die Esso-Tankstelle an der Reeperbahn, wurde 2014 abgerissen …

Aber wir haben die letzte der originalen Zapfsäulen. Die hat Esso uns für das Bühnenbild spendiert, worauf ich ehrlich gesagt ein bisschen stolz bin. In diesem Stück zeige ich den Sammlungspunkt aller Ausgeworfenen, ob Professor, Punk oder die entlaufene Seniorin aus dem Altersheim. Das Best-of aus den drei Liederabenden wird ein Rundgang durch die Untiefen der Reeperbahn, der Lust machen soll, den Kiez so zu sehen, wie er ist: schräg, deprimierend und lustig.

„Lust auf St. Pauli“ läuft ab dem 14. Oktober 2023 (Voraufführung) im St. Pauli Theater, Premiere am 15. Oktober, weitere Vorstellungen bis zum 23.10.2023

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 10/2023 erschienen.

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