Grindel leuchtet: „‚Nie wieder‘ ist jetzt“

„‚Nie wieder‘ ist jetzt“, so lautet das Motto der Gedenkveranstaltung anlässlich des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht im November 1938. 2023 ist das Gedenken an die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung so notwendig wie lange nicht
Am 9. November wird auch in Hamburg an die Reichspogromnacht erinnert – 2023 ist das vielleicht so notwendig wie lange nicht (©Felix Willeke)

Am 9. November 1938 setzten organisierte Schlägertrupps jüdische Geschäfte, Gotteshäuser und andere Einrichtungen in Brand. Tausende Jüdinnen und Juden wurden verhaftet, misshandelt oder getötet. „Das offizielle Signal zum größten Völkermord in der Geschichte“, formuliert es die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Am 85. Jahrestag ist jüdisches Leben in Deutschland erneut bedroht und die Zahl antisemitischer Straftaten steigt, wie eine kleine Anfrage der Linken Bundestagsfraktion zeigt. Demnach gab es 2023 im ersten Quartal 379 antisemitische Straftaten, im zweiten Quartal 446 und im dritten Quartal bislang 540, wie die „Rheinische Post“ zuerst berichtete. „Ja, es gibt aktuell eine größere Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland“, sagt Prof. Dr. Thomas Großbölting, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg. „Ich höre nicht nur medial, sondern auch im Bekanntenkreis von einem Angstgefühl unter Jüdinnen und Juden, sich mit Zeichen ihrer Religion in der Öffentlichkeit zu zeigen.“

Angst

Caro N. ist als Jüdin liberal aufgewachsen. Aktuell „lebe ich sehr eingeschränkt“, sagt sie (©Julia Aichholzer)

Das bestätigt auch Caro N., die wir, nachdem sie im SZENE HAMBURG Divers(c)ity-Magazin bereits von ihrem jüdischen Leben in der Stadt berichtete, aus aktuellem Anlass erneut gesprochen haben. „Aktuell habe ich Angst“, sagt sie heute. „Ich lebe seit vier Wochen, seit dem Angriff der Hamas auf Israel, sehr eingeschränkt: Ich gehe abends nicht mehr allein nach Hause. Ich gehe in bestimmte Viertel in Hamburg nicht mehr. Ich zeige definitiv in der Öffentlichkeit nicht mehr, dass ich Jüdin bin. Ich rede in der Öffentlichkeit nicht mehr über mein Jüdischsein und ich lerne auch meine Hebräisch-Vokabeln nicht mehr in der U-Bahn. Dazu ist mein Bekanntenkreis seit dem 7. Oktober (an diesem Tag griff die Hamas Israel an, Anm. d. Red.) auch deutlich geschrumpft. Und dabei fühlt sich das an, als wäre es nur der Anfang.“

Ein Satz, den ähnlich auch Autor und Entertainer Hape Kerkeling im Juli 2023 in der ZDF-Sendung „Maybritt Illner“ formulierte. Angesprochen auf Homophobie in Berlin holte er aus und sagte: „Mir kommt es so vor, als wären wir am Vorabend von etwas, das ich jetzt nicht dringend erleben möchte.“ Darin verglich Kerkeling 2023 mit der Zeit der Weimarer Republik. Und auch wenn sich die Zeiten nur schwer miteinander vergleichen lassen, macht Kerkeling „einen Punkt“, sagt Prof. Großbölting. Denn „viele Bürgerinnen und Bürger empfinden die Situation als ähnlich bedrohlich wie in den 1930er-Jahren. Dazu tragen verschiedenen Formen des völkischen Nationalismus und des Antisemitismus bei, die durch die AfD und andere rechtspopulistische Bewegungen in die politische Diskussion getragen werden.“

Dazu schränkt er allerdings ein, dass „die Krisen in der Substanz nicht zu vergleichen sind, denn beispielsweise die wirtschaftlichen Schwierigkeiten heute sind viel moderater als der ökonomische Bruch in der Weltwirtschaftskrise zum Ende der 1920er-Jahre“.

Antisemitismus: Kein neues Phänomen

„Gerade in letzter Zeit zeigt sich Antisemitismus offener in Worten und Taten“, sagt Prof. Dr. Thomas Großbölting von der Universität Hamburg (©Claudia Höhne)

Doch auch wenn sich die Zeiten unterscheiden, haben die aktuellen Ereignisse Antisemitismus zum Vorschein kommen lassen. Dieser Antisemitismus, der heute herrscht, ist laut Prof. Großbölting, in der Summe weniger verbreitet als der zur Zeit vor 1945. „Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik war Antisemitismus eine gängige und in vielen Segmenten der Gesellschaft geteilte Auffassung, in der NS-Diktatur wurde er von Staats wegen gestützt.“ Das ist in der heutigen Bundesrepublik anders, doch „gerade vor dem Hintergrund einer breiten Ächtung des Antisemitismus stechen die jetzt stärker werdenden Äußerungen und Taten besonders hervor“. Dadurch steht das, was aus der Geschichte gelernt wurde, laut Prof. Großbölting, aktuell zur Disposition. „Gerade in den letzten Jahren zeigt sich, dass dieser Nachkriegskonsens bröckelt. Antisemitismus zeigt sich offener in Worten und Taten“, so Prof. Großbölting.

Erinnern ist notwendig, reicht aber allein nicht aus

Gerade vor diesem Hintergrund scheint das Erinnern am 9. November als besonders notwendig. „Für mich hat das Erinnern persönlich eine große Bedeutung. Denn auch in der jüdischen Kultur spielt es eine große Rolle. Fast jeder unserer Feiertage erinnert an ein bedeutendes Ereignis der jüdischen Geschichte“, sagt Caro N. Doch in Deutschland habe das Gedenken an die Reichspogromnacht „nach 85 Jahren eine Art Routine bekommen. Gerade seit dem 7. Oktober werden die Stimmen sichtbar lauter, dass man sich nicht mehr erinnern wolle, weil es auch mal gut sei“, so Caro N. weiter.

Und auch wenn das Erinnern an die Reichspogromnacht und andere Gräueltaten der Nationalsozialisten laut Prof. Großbölting „ein tragendes Element der politischen Kultur im wiedervereinigten Deutschland ist“, ist „Erinnerungspolitik allein nicht der Zugang, der die Gesellschaft heute gegen Antisemitismus imprägniert“. Denn „Erinnerungspolitik kann beispielsweise in der historisch-politischen Bildung helfen, Menschen sensibel zu machen für Themen wie Diktatur und Diskriminierung und einen Reflexionsprozess anzustoßen. Dieser Prozess muss dann aber im zweiten Schritt in eine aktive Politik für Toleranz, für Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus, gegen Fremdenfeindlichkeit münden.“

Darum wünscht sich Prof. Großbölting „dass es viel mehr Menschen in Deutschland gibt, die sich in der Situation jetzt aktiv und laut für eine offene und diverse Gesellschaft einsetzen, in der jüdisches Leben nicht nur selbstverständlich, sondern eine Bereicherung für alle ist.“ Und auch wenn laut Caro N. „aktuell die jüdische Community nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland stark zusammenwächst und sich gegenseitig unterstützt“, wünscht sie sich „Humanität“ und „einfach mal zu fragen, wie es einem geht“.

Gedenken am 9. November 2023 in Hamburg

Am 9. November 2023 um 14.30 Uhr organisiert die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Hamburg“, der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg und der Universität Hamburg eine Mahnwache zur Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938.

Unter dem Motto „‚Nie wieder‘ ist jetzt“ lädt die Stiftung Bornplatzsynagoge zudem am 9. November ab 16.30 Uhr zur Gedenkveranstaltung anlässlich des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht, unter anderem mit Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher, Schriftstellerin Kirsten Boie, Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer und Journalist Deniz Yücel.

Anschließend gedenkt der Zusammenschluss „Grindel leuchtet“ am 9. November 2023 an die Ereignisse von vor 85 Jahren und stellt Kerzen neben den Stolpersteinen der Stadt auf und putzt diese.

Von 19.30 bis 21.30 Uhr gibt es zudem die Gedenkveranstaltung des Auschwitz-Komitees „Gedenken gegen das Vergessen“ unter anderem mit Musik von Bejarano & Microphone Mafia im Hörsaal des Fachberesichs Sozialökonomie der Uni Hamburg (Von-Melle-Park 9)

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