Sie schweben, flirren, vibrieren: Im Ernst Barlach Haus im Jenisch Park kann man die erstaunlichen Raumplastiken von Günter Haese entdecken
Text: Sabine Danek
Bewegen Sie sich langsam und vorsichtig. Treten Sie den Arbeiten nicht zu nahe. Und pusten Sie nicht. Auf keinen Fall. Darum bittet das Ernst Barlach Haus im Jenisch Park. Denn schließlich werden dort die äußerst fragilen Skulpturen von Günter Haese (1924–2016) gezeigt. Und das ganz ohne Schutzhauben. Das ist ein Erlebnis, denn so kommt ihre delikate Schönheit am besten zu Geltung, ihr leises Vibrieren, Klingen, Rascheln und das Licht, das sich auf den Metallen und Gazen bricht. Kurz, ihr besonderer Zauber.
Den entdeckte das New Yorker Museum of Modern Art bereits 1964 und machte den Kieler Künstler über Nacht zum internationalen Star. Zwei Jahre später vertrat er Deutschland auf der Biennale in Venedig – und dann wurde es wieder stiller um Haese und um seine Skulpturen, die so grazil wie feinteilig sind und anrührend filigran. Und die aus Drahtgazen, Uhrenfedern, Rädchen, Phosphorbronze, Gewebe oder Messingdraht bestehen, den er lötete, wickelte, zu Schnecken und Spiralen drehte und das häufig in zahlreicher Wiederholung.
Ein Hauch von Sixties-Touch
Wie Wesen aus einer anderen Welt erzittern sie und reagieren auf die Bewegungen der Besucher:innen. Dabei verbreiten sie einen Hauch von Sixties-Touch und sind dabei so verspielt wie cool. Man könnte sie sich auch als Schmuckstücke auf einem Cover der „Vogue“ vorstellen und auch für die umwerfend schlichte und geometrische 1960er-Jahre-Architektur des Barlach Hauses sind sie wie gemacht.
Zahlreiche von ihnen, ergänzt durch Bronzen und Monotypien, führen jetzt durch das Werk des Malers und Grafikers. Der in Düsseldorf studierte und erst mal damit begann, Trümmerlandschaften zu malen. Später nahm er Uhren auseinander, goss deren Bestandteile in Gips ab. Das waren erste Schritte hin zu seinen Raumplastiken, in deren Geometrie und Arrangement sich auch die Spuren seiner Ausbildung zum Grafiker wiederfinden: durch seine Lichtsetzung ließ Haese sie Schatten an die Wand werfen, die wie Zeichnungen wirken.
Erfolg und Ruhe
Haeses Erfolg begann spät. Er war bereits 39, als er seine ersten Drahtplastiken beim legendären Kunstpreis junger westen in Recklinghausen einreichte. Gerade noch kurz vor Schluss, denn man musste unter 40 sein, um dort zugelassen zu werden. Er gewann und stellte ein Jahr später bereits auf der III. documenta aus, 1964 dann in New York.
Beeindrucken ließ sich Haese durch den internationalen Erfolg anscheinend wenig. Zumindest ließ er sich nicht hetzen. Mit der Ruhe und Präzision, die seine feinteiligen Skulpturen benötigten und inmitten seines Familienlebens, arbeitete er abseits der Metropolen weiter. Als der große Henry Moore eines Tages in sein Atelier kam, um eine Plastik mit ihm zu tauschen, lehnte Haese ab. Kunst zu sammeln interessierte ihn nicht und zudem wollte er zu dem Zeitpunkt keine seiner eigenen raren Arbeiten missen. Wie eigensinnig Haese war, zeigen auch Eindrücke des Künstlers Konrad Klapheck. Wie die Künstlerin Eri Krippner in ihrem Haese-Buch „Kinetik ohne Steckdose“ notierte, fand Klapheck, dass Haese gar nicht wie ein Künstler, sondern wie ein leicht gebräunter Modemacher aus Mailand wirkte und in der Unterhaltung einen Ton „bewusster Nichtorginalität“ pflegte.
Von den Großen beeinflusst
Erkundet man Haeses Arbeiten jetzt im Ernst Barlach Hause, sieht man auch die Holzkisten, die er zum Transport und zur Aufbewahrung seiner Arbeiten baute. Mit seinen Haken, Ösen, Polsterungen und genauen Maßangaben und der feinteiligen Akribie, durch die seine Werke so einzigartig wurden, sind sie ein schöner Einstieg.
Dieser Akkuratesse stehen die Titel der Arbeiten entgegen, die so magisch klingen, wie die Werke selbst auch sind: „Geschmolzener Äquator“, „Ein anderer Mond“, „Irgendwo“ oder „Nach dem Regen“ heißen sie.
Haese hat mit Joseph Beuys an der Kunstakademie in Düsseldorf studiert. Viel hat er über seinen berühmten Kommilitonen nie gesagt. Die Abstraktionen des Informel haben ihn beeinflusst, Paul Klee und wohl auch die Düsseldorfer Künstlergruppe Zero um Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Haben Zeitgenossen jedoch immer mal wieder auf elektrisch betriebene Mechaniken zurückgegriffen, hat Haese sich immer auf die Elemente verlassen. Auf den Wind und den Luftzug, die Bewegungen mitbringen.
Endlich wieder da
50 Jahre ist es her, dass diese in einer Museumsschau in Hamburg zu sehen waren. 1972 vollführten seine Plastiken zuletzt im Museum für Kunst und Gewerbe ihre lyrischen Bewegungen. Jetzt kann man ihr „Atmen“ wieder live erleben, ihr Spiel mit „Schwere und Leichtigkeit, Verdichtung und Durchlässigkeit“, wie Haese sie selbst beschrieb, ihre faszinierenden Balanceakte und ihre Magie. Dafür bewegt man sich gerne ganz vorsichtig. Und die Luft hält man sowieso an.
Günter Haese: Schwerelos. Raumplastiken aus Draht, noch bis zum 16. Oktober 2022 im Ernst Barlach Haus
Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung:
- Haese sehen: Der Bildhauer Reinhold Engberding (Freie Akademie der Künste in Hamburg) über Günther Haese im Gespräch mit Karsten Müller am 30. August 2022 um 18 Uhr im Ernst Barlach Haus und
- Haese persönlich: Karsten Müller trifft Günter Georg Haese, den Sohn des Künstlers, am 6. September 2022 um 18 Uhr im Ernst Barlach Haus