Er hatte kein Drehbuch und drehte nur mit dem iPhone: Sean Bakers „Tangerine L.A.“, eine schrille Dramödie mit zwei echten Transgender-Prostituierten, ist trotzdem großes Kino
Straßenstrich in Los Angeles, es ist Heiligabend. Die afro-amerikanische Transgender-Prostituierte Sin-Dee Rella (Kitana Kiki Rodriguez) ist gerade aus dem Knast entlassen worden, nun muss sie von Kollegin Alexandra (Mya Taylor) erfahren, dass ihre große Liebe, der Zuhälter Chester, sie betrogen hat. Und nicht einfach nur das, sondern ausgerechnet auch noch mit einer sogenannten „echten“ Frau, was könnte verletzender sein.
Wutentbrannt stürmt Sin-Dee davon, um die beiden Missetäter aufzuspüren. Nur widerwillig schließt sich Alexandra dem Rachefeldzug an, beschwört die Freundin vergebens, keine Szene zu machen. So beginnt eine wundervoll absurde, wilde Verfolgungsjagd, oft kreischend komisch und im nächsten Moment herzzerreißend tragisch.
Beim Drehen setzte der US-amerikanische Guerilla-Filmemacher Sean Baker auf größtmögliche Authentizität. Mit seinem hochgerüsteten iPhone 5s kann er auf Tuchfühlung gehen, ist quasi unsichtbar. Inszenierung und Realität, Screwball-Comedy und Gefühlschaos verschmelzen so auf unverwechselbare Weise. Verzweiflung, Schmerz und Erniedrigung werden nicht in triste dunkle Farben getaucht, im Gegenteil, Baker pusht in seinen körnigen, kontrastreichen Bildern das titelgebende Orangerot bis zum Äußersten.
Mit unglaublichem Geschick verknüpft der 45-jährige Regisseur die verschiedenen Schicksale und Milieus. Sin-Dee kidnappt derweil erfolgreich jene unselige Dinah, die sich mit Zuhälter Chester eingelassen hat. Sie ist ein mageres, blasses Ding auf Crack, das sich in einem dreckigen, heruntergekommenen Billig-Motel verkauft. Ausbeutung, Gewalt, Drogensucht – das Elend überall ist bestürzend und Bakers Film manchmal gnadenlos unsentimental. Er erinnert an den jungen Martin Scorsese.
Die bissigen Wortgefechte der transsexuellen Protagonistinnen entwickeln sich zu atemberaubenden Bombardements, die unerwartet mit ruhigen, ergreifenden Szenen wechseln, die einen fast altmodischen Charme haben. Am Santa Monica Boulevard, wo Sin-Dee und Alexandra (vor dem Film auch in der Realität!) anschaffen gehen, braucht es viel Mut zum Träumen. Enttäuschungen sind vorprogrammiert, aber die beiden Transfrauen wollen sich nicht als Opfer sehen, sie haben ihren Stolz, kämpfen entschlossen um Würde und Selbstbestimmung. Nur was, wenn einen selbst die beste Freundin hintergeht?
„Hi, ich bin Regisseur und will einen Film über diese Ecke drehen.“ Guerilla-Filmemacher Sean Bakers im Interview
SZENE HAMBURG: Sean, wie kommt man als heterosexueller Cisgender-Mann darauf, einen Film über transsexuelle Prostituierte zu drehen?
Sean Baker: „Tangerine“ fing für mich nicht unbedingt mit meinen Protagonistinnen an. Meine erste Idee war es vielmehr, einen Film an dieser ganz speziellen Ecke von Hollywood spielen zu lassen, an der Kreuzung der Highland Avenue und des Santa Monica Boulevards. Ich wohne nur gute 500 Meter von dort entfernt und konnte nie verstehen, warum diese ungewöhnliche Gegend nie filmisch festgehalten wurde.
Dass sich dort der Transmenschen-Strich befindet, war nur Zufall?
Im Grunde genommen ja. Natürlich tragen diese Mädchen, ihre Kunden und die Orte, an denen sie sich aufhalten, entscheidend dazu bei, dass diese Ecke so eine besondere ist. Alles, was ich weiß, ist, dass ich mir definitiv sicher war, dass ich auf dem richtigen Weg mit dem Film war, als ich Mya und Kiki kennenlernte.
Ihre beiden Hauptdarstellerinnen Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor, die beide selbst transsexuell sind und dort auf dem Strich anschaffen gingen.
Genau. Wir hingen damals wochenlang an dieser Straßenkreuzung herum und führten zu Recherchezwecken Gespräche mit den Menschen, die wir dort trafen. Anfangs wusste ich noch gar nicht, welche Art von Geschichte ich eigentlich erzählen wollte, aber die beiden stachen mit ihren wunderbaren Persönlichkeiten zwischen allen anderen heraus. Und als Kiki dann auch noch voller Eifersucht erzählte, dass sie ihren Freund verdächtige, mit einer Cisgender-Frau zu schlafen – von ihr abwertend „Fisch“ genannt – hatte ich schließlich auch meinen Plot gefunden.
Wie spricht man eigentlich wildfremde Prostituierte an, wenn man noch nicht einmal weiß, was für einen Film man mit ihnen drehen will?
Ha, gute Frage! „Hi, ich bin Regisseur und will einen Film über diese Ecke drehen“ – so in etwa. Um zu zeigen, dass ich kein gruseliger Freak bin, sondern sie mir vertrauen können, brachte ich DVDs meiner bisherigen Filme mit. Das hat wirklich sehr geholfen.
Die Welt, in der „Tangerine“ nun spielt, ist eine ganz schön bittere, und natürlich zeigen Sie diese Seite des Lebens Ihrer Protagonistinnen auch. Trotzdem haben Sie sich dafür entschieden, den Film in erster Linie als Komödie anzulegen. Warum?
Sagen wir lieber: Der Film wandelt auf dem Grad zwischen Drama und Komödie. Das zumindest war meine Absicht. Einfach nur ein weiterer Blick auf die elende Trostlosigkeit des Straßenstrichs – das wäre mir zu billig gewesen. Und es hätte auch einfach nicht der Wahrheit entsprochen. Etliche der Geschichten, die mir Kiki, Mya und ihre Bekannten erzählt haben, schnürten mir die Kehle zu. Sie alle hatten schockierende, furchtbar traurige Erfahrungen gemacht. Aber davon berichtet haben sie mir mit unglaublich viel Humor. Ihr Witz ist für diese Frauen ein Weg, ihren Alltag auszuhalten und zu verarbeiten. Den wegzulassen, wäre falsch gewesen.
Keine der Beteiligten hatte also das Gefühl, der Film würde ihr Schicksal nicht ernst nehmen?
Oh nein. Im Gegenteil! Mya war es, die darauf bestand, dass man sich in diesem Film auch schlapplachen kann. Und wer wäre ich gewesen, sie diesbezüglich zu enttäuschen?
Wir müssen unbedingt noch darüber sprechen, wie Sie „Tangerine“ gedreht haben: nämlich ausschließlich auf einem iPhone!
Ich hatte einfach kein Geld für größere Digitalkameras, so einfach ist das. Doch ich merkte schnell, dass es auch in anderer Hinsicht entscheidende Vorteile hatte, mit den kleinen Telefonen zu drehen. Denn Laiendarsteller sind meiner Erfahrung nach von einer Kamera dann doch etwas verunsichert, wenn es darauf ankommt. Dadurch, dass wir nun kaum technische Ausrüstung dabeihatten und Kiki und Mya auf der Straße lediglich mit dem iPhone beglaubigten, blieb das in diesem Fall aus. Ich glaube, dass wir ehrlichere Momente einfangen konnten, als es uns bei einem herkömmlichen Dreh möglich gewesen wäre.
Aber hin und wieder stießen Sie doch sicher auch an Grenzen, oder?
Na ja, die kleine Linse hat schon einen Look zur Folge, den man nicht unbedingt mit Kino assoziiert. Alles ist immer im Fokus. Aber das habe ich in Kauf genommen beziehungsweise mir zunutze gemacht. Zumal wir die Bilder dann in der Postproduktion natürlich auch noch bearbeitet haben. Ein bisschen mühsam war manchmal nur, dass uns ständig Leute ins Bild liefen, die gar nicht wahrnahmen, dass wir da einen Film drehten. Denen musste dann im mer jemand hinterherrennen, damit sie uns schriftlich gaben, dass wir das Material verwenden durften.
Ach so, Sie haben die Bilder nachträglich bearbeitet …
Klar, wir wollten ja nicht ein wackeliges iPhone-Filmchen auf die Leinwand bringen, wie jeder es drehen könnte. Wir haben vor allem die Farben gesättigt und manipuliert, so wie es bei jedem anderen Film in der Postproduktion auch üblich ist. iPhone hin oder her – „Tangerine“ sollte schon nach Kino aussehen.
Regie: Sean Baker. Mit Kitana Kiki Rodriguez, Mya Taylor, Karren Karagulian, James Ranson, Mickey O’Hagan
„Tangerine“ läuft ab 7.7. im Abaton
Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren