Hamburgerin des Monats: Gloria Boateng

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Gloria Boateng: Hamburgerin des Monats (Foto: Michel Ferraz)

Gloria Boateng wurde als Zehnjährige von ihrer Mutter von Ghana nach Deutschland geholt, wo sie unerwartet auf sich allein gestellt war. Heute ist sie Lehrerin, Moderatorin, Bildungsaktivistin, Buchautorin, Mitinitiatorin der mehrfach ausgezeichneten Initiative SchlauFox e. V. und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes

Interview: Markus Gölzer  

SZENE HAMBURG: Gloria Boateng, wie war Ihr erster Eindruck von Deutschland?

Gloria Boateng: Es riecht und schmeckt anders. Es sieht anders aus. Die Leute sind weniger bunt angezogen. Sehr grau, beige und schwarz. Auf dem Weg vom Flughafen standen wir in der S-Bahn. Ich war sehr klein und zierlich. Ich habe mich an dem Pfosten in der S-Bahn festgehalten: Nur weiße Hände! (lacht) Meine Hand und die meines Opas waren die einzigen schwarzen. Das hat mir noch mal bewusst gemacht, dass ich in einer anderen Welt bin.

„Ich habe früh Erfahrung mit Rassismus gemacht“

Ihre Mutter wurde ausgewiesen, ihr Großvater starb. Sie wurden Pflegekind. In ihrer Autobiografie „Mein steiniger Weg zum Erfolg“ beschreiben Sie, wie damals Bildung ihr Rettungsanker war. Was hat Ihnen mit elf Jahren diese Erkenntnisfähigkeit verliehen?

Diese Erkenntnis hatte ich schon mit sechs Jahren in Ghana. Da hatten nur Kinder Zugang zur institutionellen Bildung, die Schulgebühren bezahlen konnten. Wir waren extrem arm und hatten maximal eine Mahlzeit am Tag. Das Geld, das meine Mutter und mein Großvater aus Deutschland schickten, wurde oft nicht in Schulgebühren investiert. Ich ging zur Schule, wenn wir die Gebühren bezahlen konnten. Dann saß ich wieder am Straßenrand in meiner Schuluniform und hab anderen Kindern zugeguckt, wie sie zur Schule gingen. Ich wollte das gleiche Privileg. In Deutschland habe ich früh erkannt: Ich habe hier keine Chance, wenn ich nicht die höchsten Bildungsabschlüsse erreiche. Ich habe früh Erfahrung mit Rassismus gemacht. Mir wurde gesagt: Du bist schwarz. Du bist ein Affe. Ich wurde damit konfrontiert, dass ich aufgrund meiner Herkunft weniger wert bin. Ich wusste: Ich kann nur das Gegenteil beweisen, wenn ich zeige, was ich draufhabe.

„Früher hat sich Deutschland nicht eingestanden, ein Rassismusproblem zu haben“

Heute sind Sie eine deutsche-ghanaische Erfolgsgeschichte. Wie erfolgreich ist Deutschland auf dem Weg zu einer modernen, diversen Gesellschaft?

Wir bewegen uns. Früher hat sich Deutschland nicht eingestanden, ein Rassismusproblem zu haben. Ich wurde wegen meiner Hautfarbe in meiner eigenen Wohnung zusammengeschlagen. Das hat fast mein Leben zerstört. Und wurde als Einzelfall abgetan. Heute ist das nach den vielen Angriffen, den Toten, nach Hanau anders. Wir sprechen offener über Rassismus. Das merkt man an den vielen Veranstaltungen, die zu diesem Thema stattfinden. Wir sind aber erst am Anfang. Diskriminierung fängt in der Sprache an. Gendern als Versuch, Sprache diverser zu gestalten, wird bekämpft. Am meisten von denen, die am wenigsten betroffen sind. Wie empfinden Sie das?

Sie haben vorhin gefragt, wo Deutschland sich befindet. Das zeigt sich an diesen Stellen. Was tut es mir weh, wenn durch gendersensible Sprache sich mehr Menschen mehr angesprochen fühlen? Ich versteh diese Diskussion nicht. Dass Menschen sagen, das verhunzt unsere Sprache. Wir bleiben lieber auf dem sitzen, was wir seit Jahrhunderten vorgekaut bekommen haben, ohne es zu reflektieren. Das zeigt, dass wir nicht bereit sind, Diversität anzuerkennen. Dass wir bequem sind. Sobald wir ein Wort benutzen müssen, dass wir so nicht verwenden, ist das eine Bedrohung für die Gewohnheit. Dann kämpfen wir dagegen an. Wir möchten in unserem Konservatismus Argumente reproduzieren, die Jahrtausende lang verwendet worden sind, um Menschen abzuwerten und unsichtbar zu machen. Wir schimpfen uns moderne Gesellschaft, aber wollen die Sprache erhalten, die mehr als 50 Prozent der Bevölkerung erniedrigt. Das ist so erbärmlich, dass ich beschämt bin.

„Das Schulsystem ist nicht für jedes Kind gemacht“

Als Mitinitiatorin von SchlauFox e. V. engagieren Sie sich für eine moderne Gesellschaft, indem Sie die Bildung junger Menschen fördern.

Das Schulsystem ist nicht für jedes Kind gemacht. Mag es noch so schlau sein. Als wir 2008 angefangen haben, gab es in Hamburg 1500 Jugendliche, die die Schule ohne Abschluss verließen. Die landen in irgendwelchen Maßnahmen, werden ohne Ausbildung unter Umständen langzeitarbeitslos, haben kein Selbstvertrauen. Wir können die Folgen weiterspinnen. Letztlich müssen wir sie finanzieren. Wir haben gesagt, das können wir uns als Gesellschaft nicht erlauben. Also haben wir angefangen, unser Programm JEA! aufzubauen, bei dem wir an Schulen immer die 15 Jugendlichen unterstützen, die am Ende von Klasse 7 die Prognose bekommen: Du schaffst wahrscheinlich den ersten Schulabschluss nicht. Die begleiten wir zwei Jahre lang durch fachliche Nachhilfe, durch Coaching und vieles mehr gezielt zum ersten Schulabschluss und darüber hinaus. Das ist eines unserer sechs Programme. Wir begleiten jedes Jahr 500 Kids und Teens. Möglich wird das durch 300 Ehrenamtliche. Die Gesellschaft trägt so viel durch Ehrenamt, und das ist nicht immer sichtbar. Das fände ich schön, wenn wir das feiern. Wenn Ehrenamt auch „cool“ für die nachwachsende Generation würde.

„Wie soll ich allen gerecht werden?“

Warum braucht eine wohlhabende Stadt wie Hamburg Unterstützung beim Thema Bildung?

Weil unsere wohlhabende Gesellschaft nicht genug in Bildung investiert. Andere Länder investieren einen höheren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung. Die letzte Zahl, die mir für Deutschland vorliegt, ist eine Steigerung von 4,4 auf 5 Prozent. Kanada und die skandinavischen Länder investieren mehr in Bildung. Es gibt Länder, die dreimal so viel in die vorschulische Bildung investieren wie Deutschland. Länder, die weniger Bildungsarmut zulassen. Die Kinder dort besuchen lange eine gemeinsame Schule. In Deutschland wird nach wie vor segregiert. Und du sitzt als Lehrkraft an einer Stadtteilschule mit 25 Kindern, die unterschiedlicher nicht sein könnten und bist allein. Während in anderen Ländern Assistant Teacher eingesetzt werden. Ein Assistant Teacher ist eine zweite Lehrkraft im Raum, die dich unterstützt, damit du auch leistungsschwächere Kinder angemessen fördern kannst. Das eine Kind hat einen sozial-emotionalen Sonderförderbedarf. Das andere Kind kann noch nicht lesen in der 7. Klasse. Wie soll ich ihnen allen gerecht werden? Ich sage Ihnen, ich könnte Bücher schreiben. Ich habe nur keine Zeit. Weil ich mich so viel aufrege. (lacht)

Sie wurden als Mitgründerin von SchlauFox e. V. 2019 vom Bundespräsidenten mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Was hat sich dadurch verändert? Wir waren stolz auf die Ehrung. Dass die Arbeit unseres kleinen Vereins gewürdigt wird. Kurzfristig bewirkt so ein Preis, dass man Aufmerksamkeit bekommt: durch die Medien, von Stiftungen, von Privatpersonen, wenn sie das eine oder andere Projekt mögen, unterstützen sie uns. Wir sind sehr autoritätshörig in diesem Land. Der Bundespräsident sagt: SchlauFox ist gut. Dann ist SchlauFox gut. Wenn ich in Deutschland einen Titel habe, kriege ich automatisch mehr Kompetenzzusprache und einen Vertrauensvorschuss. So eine Ehrung hallt ein halbes Jahr nach, dann verpufft das. Jetzt müsste eigentlich die nächste Verleihung her. (lacht)

„Leb das Leben, das du gelebt hast, einfach nochmal“

Wenn Sie Ihrem elfjährigen Ich heute einen Satz mitgeben könnten – wie würde der lauten?

Leb das Leben, das du gelebt hast, einfach noch mal. Mach aus allem, was dir begegnet, das Bestmögliche. Es begegnet dir so viel Gutes im Leben, aber du musst es sehen. Denn wir sehen vieles gar nicht so gut. Im Nachhinein vielleicht, aber nicht in der Situation. Ich würde meinem Ich sagen: Mach die Augen auf. Für dich. Für die Gesellschaft.  


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