Durch eine riesige Gummivulva zwängen sich die Performerinnen auf die Bühne. Ein Embryo wird aus einer Beinwunde herausgeschnitten, Kunst-Kacke fließt in Strömen. Florentina Holzingers neueste Produktion, die im Mai dieses Jahres in der Volksbühne Berlin uraufgeführt wurde, ist ein Fest der Extreme, das den Körper zum Experimentierfeld von Optimierungs- und Unsterblichkeitsfantasien macht und zugleich seine Verfallserscheinungen thematisiert. Ihr Titel „A Year Without Summer“ scheint das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel, wo eine neue Fassung dieses apokalyptischen Musicals zu sehen ist (21.–24.8.), zu konterkarieren, unterstreicht aber die diesjährige Programmatik: Frei nach dem Memoir „Room to Dream“ des im Januar verstorbenen Filmregisseurs David Lynch rüttelt auf dem Festival-Gelände und an vielen anderen Orten der Stadt neunzehn Tage lang die entgrenzende, überraschende, zuweilen auch bedrohliche Logik der Träume an den Grundfesten vermeintlich festgefügter Realitäten.
Das Kampnagel-Festival als Impulsgeber der internationalen Szene
Für András Siebold, den künstlerischen Leiter des Sommerfestivals, bildet Holzingers drastisches Spektakel zusammen mit einem Tanzstück von Marlene Monteiro Freitas die weithin leuchtende Klammer des Festivals: „Nôt“ eröffnet am 6. August nicht nur den sommerlichen Reigen mit Tanz, Performances, Theater, Konzerten, Lesungen und Partys auf Kampnagel, es war auch die Eröffnungsproduktion des diesjährigen Festival d’Avignon. Dabei übersetzt die kapverdische Choreografin das Geschichtenerzählen als Überlebensstrategie, wie Scheherazade es in „Tausendundeine Nacht“ praktiziert, in Tanz und Bewegung. Freitas und Holzinger – dem Kampnagel-Festival seit Jahren verbunden – werden unter der neuen Intendanz von Matthias Lilienthal ab 2026 auch für die künstlerische Ausrichtung der Berliner Volksbühne mitverantwortlich zeichnen. Für Siebold zwei von vielen Beispielen, dass das Kampnagel-Festival sich längst zum Impulsgeber der internationalen Szene gemausert hat: „Wir waren quasi jahrzehntelang der Underdog. Inzwischen schauen die anderen großen Festivals und Häuser sehr genau hin, was bei uns passiert oder produziert wird.“ Dass sich genaues Hinschauen lohnt, bezeugt das diesjährige Programm in vielfacher Hinsicht.
So lockt das Sommerfestival unter anderem mit drei Ur- und acht deutschen Erstaufführungen: Auf der Basis von Erzählungen Schwarzer Frauen über Sexualität kreieren die US-amerikanische Rapperin Akua Naru, der Pulitzer-Preis-gekrönte Komponist Tyshawn Sorey, das Ensemble Resonanz und Regisseurin Anta Helena Recke die Konzertinszenierung „Longing to Hell – The Blues Opera“ (14.–16.8.). Auch die Tanzperformance „Autothérapie“ (7.–9.8.) ist eigens für das Festival entstanden. Mit einer expressiv-sensiblen Bewegungssprache, die Elemente aus HipHop, Jazz, Ballett und traditionellen haitianischen Tänzen verwebt, erzählt Mackenzy Bergile die kollektive Geschichte kolonisierter Körper. Eine weitere Uraufführung – „Major“ (7.–10.8.) – stammt von der New Yorker Choreografin Ogemdi Ude. „Ihre Arbeiten wurden noch niemals in Europa gezeigt. Bei uns arbeitet sie mit Majorette-Tänzerinnen, einem von Cheerleading und militärischem Formationstanz inspirierten Tanzstil, der traditionell mit Schwarzen US-Hochschulen verbunden ist und durch Beyoncés ,Homecoming‘-Tour auch die Popkultur beeinflusst hat“, erzählt Siebold.
András Siebold: „Bianchis ,The Brotherhood‘ sollte ein Pflichtprogramm für alle Menschen sein, die beruflich mit Theater zu tun haben“
Unter den deutschen Erstaufführungen sticht Carolina Bianchis Theaterarbeit „The Brotherhood“ (14. –16.8.) hervor. Während die brasilianische Performerin im ersten Teil ihrer „Cadela Força“-Trilogie K.-o.-Tropfen auf der Bühne nahm und so ihren eigenen Körper aufs Spiel setzte, befasst sie sich im zweiten Teil mit den männlichen Machtdynamiken von Bruderschaften. „Ich habe selten Stücke erlebt, in denen ich von der ersten bis zur letzten Minute so hellwach im Theater saß“, schwärmt Siebold, der einer Aufführung bei den Wiener Festwochen beiwohnte. „Bianchis ,The Brotherhood‘ sollte ein Pflichtprogramm für alle Menschen sein, die beruflich mit Theater zu tun haben, weil es die perfide Logik des männlichen Machtmissbrauchs in diesen Institutionen zeigt. Eine wirklich demaskierende Arbeit, bei der es einem kalt den Rücken runterläuft.“ Ein wahres Fest der Sinne hingegen darf man bei „Inhale Delirium Exhale“ (7.–10.8.) erwarten. Mit sage und schreibe drei Kilometer Stoff flutet die Theatermacherin und bildende Künstlerin Miet Warlop, die bei der nächsten Kunstbiennale in Venedig den belgischen Pavillon gestalten wird, die Bühne und lässt mit ihren sechs Performerinnen und Performern immer neue flüchtige Landschaften und Gebilde entstehen. Verglichen damit begnügt sich Anacarsis Ramos mit einer geradezu minimalistischen Ausstattung. In „Mi madre y el dinero“ („Meine Mutter und das Geld“) (21.–23.8.) steht der mexikanische Dramatiker und Regisseur mit seiner leiblichen Mutter zusammen auf der Bühne. „Sie erzählt von ihren zahlreichen prekären Jobs, mit denen sie ihren Sohn die letzten 40 Jahre durchgebracht und ihm ermöglicht hat, als schwuler Mann in Mexico City Theater zu studieren. Das Stück lebt von der unglaublich menschlichen Art der Mutter, die nun quasi ihren 51. Job als Schauspielerin ausführt“, sagt Siebold.
In deutscher Erstaufführung zu erleben sind auch Gabriela Carneiro da Cunhas Performance „Tapajós“ (21.–23.8.) über brasilianische Flüsse als Zeugen von Umweltkatastrophen und Oona Dohertys surreales, mythologisch aufgeladenes Tanzstück „Specky Clark“ (13.–16.8.) über die Entbehrungen einen Waisenjungen in Belfast. Zudem wird die irische Choreografin einen ganztägigen Performance-Parcours gestalten, in dem am 16. August in allen sechs Häusern der Kunstmeile Hamburg Tanz den Dialog mit bildender an angewandter Kunst sucht. Mit Christoph Marthalers Berghüttenschauspiel „Der Gipfel“ (20.–22.8.) und Nestervals immersivem Fremdenfeindlichkeitsdrama „Das alte Dorf“ (11.–14.8.) im Museumsdorf Volksdorf melden sich noch zwei weitere Wiederholungstäter beim Internationalen Sommerfestival zurück. Nachhaltige Erlebnisse sind auch vorprogrammiert, wenn die Symphoniker Hamburg, der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor und Sprecherin Isabelle Huppert im Großen Saal der Elbphilharmonie mit Rufus Wainwrights „Dream Requiem“ (22.8.) zur klangprächtigen Reflexion über die Endlichkeit des Lebens einladen. Natürlich lockt das Sommerfestival wie jedes Jahr auch darüber hinaus mit Musik jeglicher Couleur, vom Wohlfühl-Soft-Rock der New Yorker Band Infinity Song (6.8.) über die dunkel abgeschattete Weltsicht der britischen Sängerin Anika bis zum ghanaischen Frafra-Gospel einer Florence Adooni (13.8.). Die Avantgarde-Pop Cellistin Mabe Fratti trifft auf transzendentale Klänge des Japaners Tomo Katsurada (21.8.). Seun Kuti und seine Band Egypt 80 (16.8.) befeuern den Afrobeat, und auch der Hamburger Popkünstler Andreas Dorau (17.8.) gibt sich die Ehre. Darüber hinaus kann man auf der Waldbühne im Avant-Garten Lesungen lauschen sowie Musikerinnen und Musiker kennenlernen, die die Vielfalt der Stile und Kulturen feiern. An jedem Freitag- und Samstagabend verwandelt sich der Garten überdies in eine Tanzfläche. Der Sommer auf Kampnagel wird heiß.