SZENE HAMBURG: Ciani-Sophia, im Jahr 2021 hast du dein erstes Buch geschrieben: „Wut und Böse“, in dem du dich mit weiblicher Wut in ihren vielen verschiedenen Facetten auseinandergesetzt hast. Warum war das damals ein Thema für dich?
Ciani-Sophia Hoeder: Ich führte Recherchen für das „RosaMag“ zum Thema der „Angry black woman“ durch. Dieses kolonialistische Bild ist bis heute in Medien und der soziokulturellen Struktur der Gesellschaft verankert, um die Wut schwarzer Frauen weniger ernst zu nehmen. Dadurch wurde mein Interesse geweckt, tiefer zu recherchieren und schließlich entstand der Wunsch, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben. Als dann eine Buchanfrage einging, nutzte ich diese Gelegenheit direkt.
Wie hast du das Feedback darauf damals wahrgenommen?
In vielen Kreisen herrscht Konsens darüber, dass Frauen und als weiblich gelesene Personen nicht so wütend sein sollten wie Männer. Doch viele betrachten Wut generell als unkonstruktiv. Mir fällt auf, dass Wut oft verallgemeinert wird. Im Bereich der Liebe zeigen wir mehr Nuancen – von Verknalltheit über romantische bis hin zur platonischen Liebe. Doch Wut wird einfach als Wut betrachtet, ohne Unterscheidung. Das ist gefährlich, da die Wut von einer Gruppe mit einer anderen gleichgesetzt wird. Die Wut von Pegida wird dann mit der von Black Lives Matter vereinheitlicht. Daher ist mein Punkt: Wir müssen uns intensiver mit Wut auseinandersetzen, da immer mehr Menschen wütend werden. Die Frage sollte nicht nur lauten, warum Personen sich ärgern, sondern was ihr Ziel ist. Eine gerechte, demokratische Welt für alle oder nur für einige?
Chancengleichheit ist zu oberflächlich gedacht
Ciani-Sophia Hoeder
Nun erscheint mit „Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher“ ein neues Buch von dir, in dem du die „Lüge von der Chancengleichheit“ sezierst. Wie bist du auf die Idee dazu gekommen?
Mich ärgert die soziale Ungleichheit aufgrund der Herkunft zutiefst. Ich habe mich intensiv mit Feminismus und Rassismus beschäftigt, aber immer wieder festgestellt, dass das Thema Klasse in beiden Bewegungen zu wenig Beachtung findet. Die Working Class wird oft verharmlost dargestellt. Wenn wir an Arbeiter denken, sehen wir oft das stereotype Bild des Bergmanns mit verschmutztem Gesicht vor uns, statt an die Frau an der Supermarktkasse. Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders von Armut betroffen. Deshalb wollte ich mich genauer mit dieser Schnittstelle auseinandersetzen. Gleichzeitig habe ich selbst Klassenveränderungen erlebt. Meine Mutter und ich waren arm, und das hat meinen Blick auf die Welt nachhaltig geprägt.
Ciani-Sophia Hoeder: „Es ist wichtig, dass wir einander verstehen“
Natürlich sollte man dein Buch erst einmal lesen, aber: Kommst du letztlich tatsächlich zu der Erkenntnis, dass Chancengleichheit in diesem Land nicht existiert?
Chancengleichheit ist zu oberflächlich gedacht. Wenn ich zwei Kinder zur gleichen Schule schicke, haben sie scheinbar die gleichen Chancen. Doch das eine Kind kehrt in ein Zuhause zurück, wo eine Mutter den ganzen Tag als Hausfrau arbeitet, weil die Familie sich das leisten kann, dadurch bereitet sie die Mahlzeiten vor, hilft beim Lernen und bietet eine stabile Umgebung. Das andere Kind kommt in ein Zuhause, in dem die Eltern im Niedriglohnsektor arbeiten, Schichtdienste haben und kaum zu Hause sind. Hier muss das Kind im Haushalt mithelfen, Geschwister versorgen, Essen zubereiten und alleine Hausaufgaben machen. Beide Kinder besuchen dieselbe Schule, aber ihre Lebensumstände sind ungleich. Diese Realitäten werden übersehen, obwohl die Statistiken es deutlich zeigen: Kinder aus akademischen Haushalten haben bessere Chancen auf einen Hochschulabschluss. Das bedeutet: Die Herkunft entscheidet über Erfolg, Chance hin oder her.
Mich ärgert die soziale Ungleichheit aufgrund der Herkunft zutiefst
Ciani-Sophia Hoeder
Du plädierst in deinem Buch dafür, dass wir uns alle unserer jeweiligen Klasse viel bewusster sein müssen, um die Klassenunterschiede aufbrechen zu können. Warum ist ein Mehr an Klassenbewusstsein dafür wichtig?
Ich glaube, dass ein besseres Verständnis für soziale Klasse im Kleinen dazu beiträgt, dass Menschen ein tieferes Bewusstsein füreinander entwickeln und realisieren, dass Erfolg in unserer Gesellschaft nicht unbedingt eine Motivationsfrage ist, sondern weitaus komplexer. Denn die Dinge, die ich schön finde, mit wem ich schlafe, was ich gerne esse, höre, lese und womit ich mich beschäftige, sind alle von meiner sozialen Herkunft geprägt. Gleichzeitig glauben viele Menschen, dass sie individuell sind, unabhängig von ihrem Aufwachsen. Das ergibt jedoch keinen Sinn, da wir nur im Kollektiv existieren können. Wenn ich zur Arbeit fahre, wird das Fahrzeug von jemand anderem hergestellt und viele kluge Köpfe waren an dessen Entwicklung beteiligt, sei es ein Auto, die Bahn, der Bus, ein Fahrrad. Es ist wichtig, dass wir einander verstehen, insbesondere angesichts der vielen aktuellen Themen, mit denen wir konfrontiert sind. Klassenunterschiede haben immer eine Rolle gespielt und werden dies umso mehr tun.
Der am besten bezahlte Job ist oft nicht unbedingt der gesellschaftlich relevanteste
Ciani-Sophia Hoeder
Kann Kapitalismus langfristig funktionieren?
Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Schere von Arm und Reich stetig weiter auseinandergeht. Wenn man den Begriff der Klasse mal nur auf das Vermögen bezieht: Ist es im Kapitalismus dann nicht unmöglich, Klassen zu verhindern? Du schreibst in deinem Buch ja selbst: „Der Kapitalismus produziert Benachteiligung.“
Auch ohne den Kapitalismus existierten bereits Klassen. Das eigentliche Problem ist nicht unbedingt die Existenz von Klassen, sondern vielmehr die Diskrepanz zwischen ihnen. Durch die Arbeit von Ulrike Herrmann habe ich gelernt, dass der Kapitalismus viele Menschen mit Geld benötigt, anstatt dass nur eine kleine Gruppe alles hortet. Ursprünglich sollte das Geld in Bewegung bleiben, von einer Hand zur nächsten fließen. Doch stattdessen erleben wir das genaue Gegenteil: Die Reichen werden reicher. Außerdem gibt es selten einen reinen Kapitalismus, sondern einen Sozialstaat, Soldaritätsprinzipien, was auch bedeutet: Wir können aktiv gegensteuern. Unabhängig davon müssen wir überlegen, wie der Kapitalismus, der auf unendliches Wachstum angewiesen ist, auf einem begrenzten Planeten langfristig funktionieren kann.
Der letzte Satz deines Buches lautet: „Und, um meinen Großvater zu zitieren: Wir sollten nicht nur labern, sondern auch machen.“ Daher: Hast du bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Lösungsansätze gefunden, mit denen unsere Klassengesellschaft aufgebrochen werden und mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit erlangt werden könnte?
Die zentrale Frage, meiner Ansicht nach, ist, wie wir Arbeit definieren. Der am besten bezahlte Job ist oft nicht unbedingt der gesellschaftlich relevanteste. In diesem Zusammenhang gibt es viele Ideen, wie zum Beispiel das bedingungslose Grundeinkommen. Gleichzeitig müssen wir über die Verteilung des Wohlstands und die Eigentumsrechte diskutieren. Eine radikale Leistungsgesellschaft könnte vorsehen, dass das Vermögen, das Eltern oder Großeltern erwirtschaftet haben, nicht einfach vererbt wird.
Der französische Ökonom Thomas Piketty zeigt auf, wie sich die Gesellschaft verändern könnte, wenn jeder Mensch einfach 120.000 Euro erhielte, anstatt dass einige Menschen Schulden oder Milliarden erben. Viele Menschen zögern, sich mit Eigentumsrechten oder der Besteuerung von Wohlstand auseinanderzusetzen, weil sie tief in ihrem Herzen glauben, dass sie selbst möglicherweise zu den ein Prozent gehören könnten oder befürchten, dass es Omis Häuschen betrifft. Hier zeigt sich erneut der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär, der bei genauer Betrachtung der Statistiken eigentlich zeigt, Personen werden nicht reich, sie sind es.
Ciani-Sophia Hoeder: Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher – Die Lüge von der Chancengleichheit, hanserblau, 256 Seiten, 20 Euro
Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 06/2024 erschienen.