SZENE HAMBURG: Herr Lux, wie fühlen Sie sich in den letzten Wochen Ihrer Intendanz?
Joachim Lux: Es geht mir gut. Ich finde es sinnvoll und notwendig, dass es einen Wechsel gibt und bin mit mir im Reinen.
Die Erfolgsbilanz der letzten sechzehn Jahre ist daran sicher nicht ganz unschuldig …
Das stimmt. Ich habe keinen Grund, unzufrieden zu sein. Und bis in die Schlusskurve bleibt es spannend: Wir zeigen Inszenierungen, die teilweise älter als zehn Jahre sind. Das ist möglich, weil wir ein enorm stabiles Ensemble haben. Außerdem ist durch die katastrophalen Ereignisse in der Politik mit Kirill Serebrennikow und seinem Exil-Ensemble noch mal etwas ganz Neues und Unerwartetes bei uns entstanden. Das hat im guten Sinne noch einmal Wirbel gemacht.
Die Zeit Ihrer Intendanz war von großen Krisen überschattet: die Nuklearkatastrophe in Fukushima, die Corona-Pandemie, die Lampedusa-Flüchtlinge und zuletzt der Krieg in der Ukraine. Wie groß war der Druck, das alles auf der Bühne zu reflektieren?
Wir sind natürlich keine Tageszeitung, aber das aktuelle Geschehen vollkommen ignorieren können wir auch nicht. Wichtig scheint mir, Haltung zu zeigen, und das haben wir, glaube ich, getan. Aber wenn ich jetzt weitermachen sollte, würde mir eine Antwort darauf schwerfallen. Würde heute gewählt, bekämen die Rechtsradikalen die meisten Stimmen. Wie geht man damit um? In unserer eigenen Kulturblase können wir unsere Seele kräftigen, aber eine echte Auseinandersetzung findet dadurch nicht statt. Vor zwei Jahren habe ich überlegt, auf der Bühne das Gespräch mit rechtsradikalen oder sehr rechts denkenden Menschen zu suchen, schlicht und ergreifend, um diese Positionen jenseits aller Parolen besser zu verstehen. Ich glaube, da haben wir in der Kultur noch nicht die richtigen Wege gefunden – weder diskursiv noch innerhalb der künstlerischen Projekte. Jetzt einfach wieder Brecht und Horváth zu spielen, kann nicht die Antwort sein.
Zeitgenössisches Theater: In den letzten Jahren hat sich ein großes Bedürfnis ergeben, von der eigenen Gegenwart zu erzählen
Liegt das Problem auch in einer veränderten Gesprächskultur? Dass Menschen sich immer weniger von Argumenten als von Emotionen leiten lassen?
Wir haben in der Tat noch nicht begriffen, dass sich durch KI und Social Media nicht nur die Kommunikationsformen, sondern auch die Inhalte verändert haben. Darin sehe ich zumindest eine Teilbegründung für das, was sich gerade gesellschaftlich ereignet.
In der Schlusskurve zeigen wir Inszenierungen, die teilweise älter als zehn Jahre sind. Das ist möglich, weil wir ein enorm stables Ensemble haben.
Joachim Lux, Intendant des Thalias am Alstertor
In den letzten 20 Jahren beobachten wir im Theater eine starke Hinwendung zu zeitgenössischen Stoffen. Woran liegt das?
Es gibt ein großes Bedürfnis, von der eigenen Gegenwart zu erzählen, wohingegen der sogenannte bildungsbürgerliche Kanon – Stücke, die man unbedingt gesehen haben muss – eine immer kleinere Rolle spielt. Da die Autoren aber kaum noch dramatische Bühnentexte schreiben, bedienen wir uns oft bei Romanstoffen.
Soll man über die Verdrängung der Klassiker aus den Spielplänen ein Lamento anstimmen? Sie wurden schließlich nicht ohne Grund über Jahrhunderte tradiert.
Ich würde das etwas allgemeiner formulieren: In dem Moment, wo eine Gesellschaft ihre eigene Historizität nicht mehr reflektiert – egal ob in der bildenden Kunst, in der Musik oder im Theater –, verliert sie ihr emotionales und intellektuelles Gedächtnis. Und das kann nicht gut sein.
Haben Sie während Ihrer Intendanz auch Fehler gemacht? Welche Niederlagen mussten Sie einstecken?
Vielleicht hätte ich noch etwas frecher sein sollen. Hamburg ist eine wohl sortierte Gesellschaft, die das wohl ausgehalten hätte. Zwei große Niederlagen gibt es auf jeden Fall. Beide haben mit Stadtentwicklungspolitik zu tun. Zum einen wollte ich mithilfe von Olaf Scholz das Gelände in der Gaußstraße zum Kulturzentrum Altona entwickeln. Dass das gescheitert ist, finde ich schlimm. Zum anderen wollte ich die Thalia-Kantine als Begegnungsort von Publikum und Künstlern in den Gerhart-Hauptmann-Platz hineinbauen und den Platz begrünend umgestalten lassen. Auch das hat nicht geklappt.
Vor zwei Jahren habe ich überlegt, auf der Bühne das Gespräch mit rechtsradikalen oder sehr rechts denkenden Menschen zu suchen, schlicht und ergreifend, um diese Positionen jenseits aller Parolen besser zu verstehen. Ich glaube, da haben wir in der Kultur noch nicht die richtigen Wege gefunden
Joachim Lux, Intendant des Thalias am Alstertor
Das Thalia Theater ist sehr international aufgestellt. Warum?
In einer immer internationaler werdenden Welt ist mir der Perspektivwechsel sehr wichtig. Wie kann der am Theater gelingen, das durch die Sprache ja extrem nationalstaatlich gebunden ist? Einerseits haben wir im Rahmen der „Lessingtage“ internationale Produktionen eingeladen, andererseits sind wir mit unseren eigenen Inszenierungen viel auf Reisen gegangen. Wir waren vielleicht das im internationalen Raum aktivste Theater. Und es ist wirklich ein Unterschied, ob man in Deutschland oder in China, Sydney oder Namibia spielt. Man macht andere Erlebnisse und Relativierungserfahrungen und nimmt sich dadurch vielleicht nicht mehr ganz so wichtig.
Nicht zu vergessen die internationalen Koproduktionen mit gemischten Ensembles …
In Luk Percevals Stück zum Zweiten Weltkrieg „Front“ oder dem Kolonialismus-Stück „Hereroland“ standen die Nachfahren von Tätern und Opern gemeinsam auf der Bühne. Diese Leistung kann man gar nicht überschätzen, weil mir die Utopie, die über das rein Symbolische hinausgeht, extrem wichtig ist. Und als Kirill Serebrennikov plötzlich mit seinen zehn russischen Künstlerinnen und Künstlern hier auftaucht und sagt: Wir mussten abhauen, können wir bei euch unterschlüpfen … Das erinnert einen fast an den Zweiten Weltkrieg, wo Zürich die flüchtenden Künstler aus Deutschland aufgenommen hat. Mit diesem Universalismus, dieser Liberalität und Toleranz wird das Theater sehr politisch. Bitter ist, dass jetzt, wo ich aufhöre, die gegenteiligen Strömungen gesiegt haben.
Wo man hinguckt gehen aus den Wahlen populistische Autokraten hervor: Für Joachim Lux ist das nur schwer zu verstehen
Als Sie 2017 die Reihe „Plattform Europa – Thalia international“ ins Leben gerufen haben, taten Sie das mit den Worten: „Wir dürfen nicht aufhören, den europäischen Traum zu träumen.“ Lässt Sie dieser Traum acht Jahre später noch gut schlafen?
Das ist gerade ein Albtraum. Ob man in Argentinien, Chemnitz, den USA oder Italien lebt: Der Zeitgeist ist weltweit rechts, Nationalismus ist eine globale Bewegung! Die stärkste Partei in Deutschland wäre zurzeit eine rechtsradikale, in einem Land also, das für 60 Millionen Tote verantwortlich ist, in dem es aber möglich ist, den Nationalsozialismus ungestraft als „Fliegenschiss“ zu bezeichnen. Wir sollten uns schämen. Von der Türkei über Ungarn bis zu Israel oder den USA: überall aus freien Wahlen hervorgegangene populistische Autokraten. Trotz völlig verschiedener gesellschaftlicher und kultureller Hintergründe! Das ist schwer zu verstehen. Aber wir müssen trotzdem weitermachen mit Europa. Vielleicht hilft uns Trump, zur Besinnung zu kommen und uns zu verbünden. Etwas anderes weiß ich nicht.
Zum letzten Mal sind im Juni zu sehen: „Immer noch Sturm“, „Faust I + II“, „Moby Dick“ und „Blue Skies“. Wenn Sie in diesen vier Inszenierungen ein hervorstechendes Thalia-Theater-Charakteristikum aufspüren müssten, welches wäre das?
Das Entscheidende ist, dass es über all die Jahre dieses Ensemble gab, das gespielt hat wie auf einem Fußballplatz: Wenn einer nach vorne stürmt, muss er sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass die Flanke kommt. Man spielt mit traumwandlerischer Sicherheit. Das hat einerseits damit zu tun, dass sich alle so gut kennen, aber auch damit, dass es uns gelungen ist, Schachspieler zu versammeln, die die Utopie gemeinsamer künstlerischer Arbeit leben. Natürlich streiten wir und haben Konflikte. Aber die Kraft, dann zusammen weiterzumachen, ist größer als die Fliehkraft.