Kerstin Steeb und ihre Opern-Wrestling-Show auf Kampnagel

Mit ihrer Performance „It’s a Mass“ verarbeitet Regisseurin Kerstin Steeb Diskriminierungserfahrungen von Opernsängerinnen und -sängern auf Kampnagel zu einer ebenso frechen wie spaßigen Opern-Wrestling-Show
Singend sagen, wo es weh tut: „It’s a Mass“ (©Alexandra Polina)
Singend sagen, wo es weh tut: „It’s a Mass“ (©Alexandra Polina)

SZENE HAMBURG: Kerstin, in deiner Performance „It’s a Mass“ geht es um reaktionäre Strukturen und Sexismus im Bereich des Musiktheaters. Ist die Oper ein Ort, an dem besonders häufig diskriminiert wird?

Kerstin Steeb: Ich möchte mir nicht anmaßen, die Oper in dieser Hinsicht mit anderen Bereichen zu vergleichen. Trotzdem würde ich sagen, dass die Opernwelt dem Zeitgeist hinterherläuft. Einen Zugang zur Oper finden meistens Menschen aus dem Bildungsbürgertum, die zwar aufgeklärt und reflektiert sind, von denen aber nicht unbedingt eigenmotiviert die große Revolution los geht. Die Liebe zum Werk verhindert gerne, bestehende Formen zu hinterfragen und aufzubrechen.

Du kritisierst auch die Besetzungspolitik an den großen Häusern …

Über die Stimmfächer findet ein Typecasting statt. Sänger und Sängerinnen werden eingeengt und diskriminiert, indem sie auch körperlich diesen Stimmfächern zu entsprechen haben. Es ist immer noch eine ungeschriebene Regel, dass Sängerinnen beim Vorsingen im Kleid und mit hochhackigen Schuhen zu erscheinen haben. Sie sollen kokett, lieb, brav und sexy erscheinen. Schon kleinste Abweichungen von diesem reduzierten Frauenbild können auf Abwehr stoßen. Ich habe im Zuge unserer Recherche unter anderen mit einer Sängerin gesprochen, die in einer Inszenierung aus dem Bühnenboden heraus singen musste, sodass nur ihr Kopf sichtbar war – weil der Regisseur ihren Körper nicht mochte.

Wir gehen von unserer eigenen Kampfeslust aus und kehren das Prinzip der Wrestling-Show um.

Kerstin Steeb

Sind nur Frauen von diesen Zuschreibungen betroffen?

Nein. Ich arbeite gerade mit einem Bariton zusammen, der sehr androgyn und schlaksig ist und von seiner Agentur immer zu hören bekommt, dass er eigentlich unvermittelbar ist, weil man sich bei einer tiefen Stimme auch eine burschikose und stattliche Figur wünscht. Umgekehrt werden Sopranistinnen mit kurzen Haaren angehalten, ihre Frisur zu ändern. Wir sprechen wohlgemerkt über eine Theaterästhetik, wo  Perücken ein beliebtes Mittel sind.

Ein Vorbild sein

Wie lässt sich das binäre Denken in den Stimmfächern geschichtlich herleiten?

Spannend ist, dass es im Barock eher eine Binarität in der Vertikalen, zwischen irdisch und himmlisch gegeben hat. Die Stimme hatte also nicht per se etwas mit Geschlecht zu tun. Die hohen Stimmen waren die, die sich abheben von der Welt. Erst später entwickelte sich dieser bürgerlich-naturalistische Zugang mit einer engen Verbindung zwischen Körper, Geschlecht und Stimme. Da darf man schon die Frage stellen: Warum argumentieren wir naturalistisch in einem Kunstbereich, der artifizieller nicht sein könnte? Eine Argumentation, die mir aber an vielen Stadttheatern immer wieder hartnäckig begegnet.

Was stellst du mit deiner Produktion „It’s a Mass“ dieser Argumentation entgegen?

Die persönlichen Erfahrungen unserer Sänger und Sängerinnen. Die PoC-Sängerin unseres Teams wird zum Beispiel hauptsächlich für „Porgy and Bess“ oder „Aida“ angefragt. Es ist für ihre Umwelt noch nicht vorstellbar, dass sie andere Partien übernehmen könnte. Eine andere Sängerin hat eine Beinprothese und bekommt schon bei Vorsingen damit Probleme. Während sie die Prothese in den letzten Jahren meistens versteckt hat, geht sie bei uns extrem offen mit dieser Tatsache um. Auch deshalb, weil sie Lust hat, ein Vorbild für Menschen mit ähnlichen Einschränkungen zu sein.

„Eine schöne Unvorsichtigkeit miteinander“

Dekonstruiert auf der Bühne und im Film die strenge Form der Oper: Kerstin Steeb (©Heike Blenk)
Dekonstruiert auf der Bühne und im Film die strenge Form der Oper: Kerstin Steeb (©Heike Blenk)

Noch einmal zurück zu den Männern. Sind sie nicht doch die Gewinner im ewigen Opernspiel um Liebe und Macht?

Ein Transgender-Sänger aus unserem Team war Mezzosopranistin und beschreibt, wie spannend es sich für ihn angefühlt hat, Rollen zu spielen, die quasi schon queer angelegt sind – etwa die Hosenrollen. Als Tenor ist er jetzt mit ganz anderem Material konfrontiert, bei dem er die Widersprüchlichkeit und Zärtlichkeit total vermisst. Auch das Tenorfach ist eingeengt. Man denke nur an das Fetischisieren des in der Bruststimme gesungenen hohen C, bei dem eine Verneinung der tatsächlich hohen Stimme für den Helden mitschwingt.

Fällt es den Beteiligten nicht schwer, diese persönlichen Erfahrungen auf der Bühne mitzuteilen?

Leicht ist es nicht. Auch für die drei komponierenden Personen nicht, die immer Rücksicht darauf nehmen müssen, was gerade im gemeinsamen Prozess entsteht. Inzwischen haben wir aber eine schöne Unvorsichtigkeit miteinander entwickelt. Dieser Mut, mit Spaß, Wucht und Frechheit ein Wagnis auf der Bühne einzugehen, ist wichtig, denn daraus kann auch wieder eine Form entstehen, die gleichzeitig ein Schutz sein kann.

Keine klassischen Besetzungsschemata

Bei der Bezeichnung „Opern-Wrestling-Show“ kommt einem die fünfteilige Operanovela „Ring & Wrestling“ in den Sinn, die 2018 in der Opera Stabile gezeigt wurde. Gibt es da irgendwelche Anknüpfungspunkte?

Vielleicht gab es damals ähnliche Motive. Wir gehen von unserer eigenen Kampfeslust aus und kehren das Prinzip der Wrestling-Show um. Dort wird ja ein großer Realismus behauptet, obwohl alles einstudiert ist – eine Parallele zur Oper. Diese Behauptung brechen wir auf, indem wir eher Off-Stage-Momente inszenieren und zeigen, wie man immer wieder mit dem Profil, das einem zugeschrieben wird, ringt. Dabei geht es eher um Einzelkämpfe und das Ausgestellt-Sein der Personen auf einer Art Show-Treppe, die wie eine verpixelte Zunge aussieht – als ob man aus dem Mund herausgespuckt wird. Dazu gibt es Seile, die an Stimmbänder erinnern.

Es ist schlimm, wie wenige Frauen Opern auf großen Bühnen inszenieren.

Kerstin Steeb

Du hast gesagt, dass für das Projekt neue Musik entsteht. Wie sieht die Besetzung aus?

Da wir die klassischen Besetzungsschemata nicht bedienen wollten, haben wir nur hohe Stimmen ausgewählt. Dazu kommen Saiteninstrumente, nämlich zwei Kontrabässe, eine Harfe und eine E-Gitarre plus elektronische Musik. Es gibt Sensoren im Bühnenbild, die Klänge auslösen und drei Personen, die komponieren – ein unfassbar komplexer Vorgang. Wir haben aber bewusst ein großes Team gewählt, um viele Perspektiven zu haben, aus denen heraus wir das Stück gemeinsam entwickeln können.

Werden auch klassische Arien gesungen?

Es gibt Zitate von Arien, die für die Sänger und Sängerinnen wesentlich sind.

Wie ist der Titel „It’s a Mass“ zu verstehen?

Der erste Gedanke war, in einer eigenen Messe starre Strukturen von Religion und Oper zu vergleichen. Der Religionsgedanke, heilig zu sprechen, Opfer zu bringen und neue Rituale für die Oper zu erfinden, ist in der Performance noch vorhanden, aber im Vordergrund steht nun die Bedeutung von „It’s a Mess“ – das Chaos, die Vielfalt.

Quotenangaben können verblenden

Im letzten Jahr hast du die Oper „Pinocchios Abenteuer“ am Theater Regensburg und an der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg im Rahmen der „Dulsberg Late Night“ die Show „Magic Ball“ inszeniert. Würdest du die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als dein zweites Standbein bezeichnen?

Ich habe schon immer mit großer Leidenschaft und Ernsthaftigkeit Kinder- und Jugendtheater gemacht, weil dieser Bereich viel zu unterbelichtet und wahnsinnig wertvoll ist. Gleichzeitig hat es mich über viele Jahre sehr gestört, dass man mir als „junge Mama“ nur diese Dinge zutraut. Es ist schlimm, wie wenige Frauen Opern auf großen Bühnen inszenieren. Deshalb will ich die Kinderoper – man könnte sagen, aus einem politischen Aktivismus heraus – hinter mir lassen. Der Einstieg in die große Oper ist schwer: Es fehlen kleine Bühnen, experimentelle Formate und Nachwuchspreise. Man kann zunächst nur assistieren oder Kinderopern inszenieren. Von dort aus ist die Schwelle bis zur Inszenierung auf der großen Bühne aber enorm hoch.

Wie groß ist das Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern im Bereich der Opernregie?

Mit unserem Verein „Pro Quote Bühne“, dessen Vorstand ich angehöre, haben wir bei der Fraktion Die Linke im letzten Jahr eine große Senatsanfrage angestoßen: In Hamburg ist die Quote im Bereich Musiktheater durch die vielen regieführenden Frauen im Opernloft fast ausgewogen. Aber beim Honorarvergleich in den Jahren 2016 bis 2019 ergibt sich ein ganz anderes Bild: 1,2 Millionen Euro Gage gingen an Männer und nur 200.000 Euro an Frauen. Daran sieht man, wie Quotenangaben verblenden können. Gleichzeitig fordern wir sie ein, weil viele Häuser weit von einer paritätischen Besetzung entfernt sind, erst recht im Musiktheater. Und damit fehlen Perspektiven im wahrsten Sinne des Wortes.

„It’s a Mass“ feiert am 24. Mai 2023 Premiere auf Kampnagel und ist dort bis zum 27. Mai täglich um 20:15 Uhr zu sehen.

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 05/2023 erschienen. 

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