Der „Jamliner“ ist eine rollende Musikschule, die regelmäßig in die benachteiligten Viertel Hamburgs fährt und Jugendlichen ermöglicht, ihre eigene Musik aufzunehmen. Ein Besuch am Standort Steilshoop.
Text: Ulrich Thiele
Fotos: Jérome Gerull
Collin und Abdurrahman haben es sich draußen auf dem Steintisch bequem gemacht. Den Jungs bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und sich die Zeit mit Gesprächen über Videospiele zu vertreiben, denn im Moment gibt es für sie nichts zu tun. Drinnen, im Jamliner, arbeiten ihre zwei Bandkolleginnen gerade an der Schlagzeugspur für ihren ersten gemeinsamen Song. Titel: „Mobbingopfer“.
Ein Lied über den Hilferuf eines Mädchens an ihren besten Freund, der aus Feigheit die Mobbingattacken seiner Mitschüler unterstützt – bis er am Ende des Liedes den Mut fasst, sich ihnen zu widersetzen und zu seiner Freundin zu halten. Ein ernstes Thema. „Hilf mir! Hilf mir! Ich brauche jemanden, der mit mir durch dick und dünn geht“, heißt es an einer Stelle. Collin hat den Text geschrieben. „Das ist wirklich bei uns so an der Schule passiert“, erklären Collin und Abdurrahman. Das Thema lag ihnen auf der Seele.
Eine Band gründen, einen Song schreiben und diesen im Proberaum aufnehmen – der Traum vieler Jugendlicher. Hamburgs musikalische Buslinie erfüllt ihnen diesen Traum. Der Jamliner ist ein ehemaliger Linienbus, der in einen mobilen Bandproberaum inklusive Tonstudio umgebaut wurde. Auf den Straßen fällt das mit einem Graffiti-Gemälde übersäte Gefährt sofort auf – passend zu dem ungewöhnlichen Linienbus. Das Projekt der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg, des Förderverein der Staatlichen Jugendmusikschule Hamburg e. V. und Reinhold Beckmanns Stiftung Nestwerk e. V. richtet sich an Jugendliche ab zwölf Jahren, die von sich aus niemals eine Musikschule besuchen würden.
Vormittags kommen die Jugendlichen aus den naheliegenden Schulen, nachmittags können auch andere Gruppen – jede Band muss fünf Mitglieder haben – vorbeikommen und sich für das Projekt anmelden. Die „rollende Musikschule“ kommt einmal pro Woche mit zwei Pädagogen direkt in ihr Viertel, wo sie mit der Unterstützung von zwei Pädagogen – und an fünf Standorten auch zusätzlich mit einer FSJlerin – ein halbes Jahr lang an ihrem eigenen Song basteln. Am Ende der intensiven Probe- und Aufnahmezeit können die Jungs ihr eigene CD mit ihrem Song in den Händen halten.
Heute ist Donnerstag, der Standort Steilshoop steht auf dem Plan. Der Jamliner steht auf dem Verkehrsübungsplatz in der Gründgensstraße. Nach rund zehn Minuten ist die Wartezeit für Collin und Abdurrahman vorbei. Die Bustür öffnet sich, Angelina und Leonie kommen gut gelaunt heraus. Jasmine, das fünfte Bandmitglied, ist heute nicht da. Halb so wild, dann wird der Part fürs Keyboard eben auf nächste Woche verschoben. Die fünf Jugendlichen sind zwischen 12 und 13 Jahren alt und besuchen dieselbe Klasse an der naheliegenden Stadtteilschule, mit der der Jamliner eng zusammenarbeitet. Ihr Bandname Jalac setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Mitglieder zusammen.
„Die Kinder halten nach einem halben Jahr ihre fertige CD in der Hand“
Unterstützt werden die Nachwuchsmusiker in Steilshoop von Gesa Zill, Isabel Bonkat und Matthias Möller-Titel. Die 18-jährige Isabel absolviert gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr und ist jeden Tag im Jamliner unterwegs. Die Arbeit passt zu ihr, schließlich spielt sie Bass in einer Jazzband und will Musik auf Lehramt studieren. Der studierte Musikwissenschaftler Matthias Möller-Titel komponiert außerhalb des Jamliners Filmmusik in seinem Tonstudio. Seit mehr als zehn Jahren ist er zweimal pro Woche als Musikpädagoge für den Jamliner in Hamburg unterwegs. „Es ist ein sehr zielgerichtetes Arbeiten“, erzählt der 39-Jährige. „Die Kinder kommen her, um ein Ziel zu erfüllen – nämlich nach einem halben Jahr ihre fertige CD in der Hand zu halten.“
Dafür ist der ehemalige Linienbus bestens ausgerüstet. Der Jamliner ist in zwei Räume aufgeteilt: Direkt hinter der Fahrerkabine befindet sich der schallisolierte Bandraum mit einem Schlagzeug, einem Keyboard, einem Verstärker, Mikrofonen, Gitarren und einem Platz für die Sänger. Im hinteren Teil des Busses ist das mit Sitzecke gemütlich eingerichtete Tonstudio. Hier können die Kids an ihren Songs schreiben, proben und schwierige Parts bei Bedarf über Kopfhörer spielen. Der Laptop ist mit dem Tonstudio und dem Bandraum verbunden, wodurch Aufnahmen aus beiden Räumen möglich sind.
„Ab und zu singen auch Jungs über Liebe“
Zwei solcher Busse sind von montags bis freitags in Hamburg unterwegs, einen Tag in Jenfeld, den anderen in Harburg, auf St. Pauli oder eben in Steilshoop. Jedes Instrument steht spielfertig zur Verfügung und bedarf keiner aufwendigen Umbauzeit – was wichtig ist, denn jedes Details im Jamliner soll auf die Arbeit mit Jugendlichen ohne musikalische Vorbildung abgestimmt sein.
„Die Kinder müssen nichts können, wenn sie hier anfangen“, betont Matthias, sie lernen alles hier im Jamliner. Zuerst stehen einfache Rhythmusübungen auf dem Plan: stampfen, klatschen, einzählen. Dann geht es schon an die Instrumente, erste Töne werden geübt. Meistens bringen die Kids einen Song mit, den sie mögen. Davon inspiriert entwickelt die Crew gemeinsam mit der Band Ideen für einen eigenen Song. Momentan ist der Rapper Capital Bra am meisten angesagt. „Das ist gerade der heiße Scheiß“, sagt Matthias und lacht. In den meisten Songs geht es um Freundschaft, viele singen auch über ihre Herkunft: Steilshoop, mein Ghetto.
Ab und zu singen auch Jungs über Liebe, aber das ist eher selten der Fall. Meistens dominiert das für den HipHop typische „Wir sind die Geilsten“. Aber auch ernste Themen werden angeschnitten: das Thema Mobbing, über das Jalac singen, ist dieses Jahr in Steilshoop mehrfach vertreten.
Über 200 Bands hat Matthias schon bei ihren Songaufnahmen begleitet, darunter auch solche, die mit besonderen Themen auffielen. Zum Beispiel vor fünf Jahren, als fünf Jugendliche, die gerade Deutschland erreicht und den Arabischen Frühling miterlebt hatten, ein Lied über die Revolution aufnahmen. Auf Deutsch wohlgemerkt. Denn auch das ist eine der Regeln im Jamliner: gesungen werden nur eigene Lieder – Coverversionen sind nicht erlaubt – und immer auf Deutsch.
Die Regel gilt auch für Flüchtlingskinder aus den Vorbereitungsklassen, mit denen der Jamliner zusammenarbeitet. Vor drei Jahren, im Sommer 2015, gab das Projekt auch eine Woche lang einen Crashkurs in der Flüchtlingsunterkunft im Harburger Max Bahr. Eine Gruppe kurdischer Mädchen aus dem Irak nahm daran teil und besuchte auch unabhängig vom Workshop den Harburger Standort des Jamliner regelmäßig.
„Die Musik ist das Werkzeug für die Pädagogik“
Man habe beobachten können, wie schnell sich ihr Deutsch verbesserte, berichtet Matthias. Sie nahmen schließlich einen Song darüber auf, was sie sich für ihre Zukunft wünschen. Grundlegende Wünsche: eine Arbeit und ein Zuhause zu haben. „Für uns ist das selbstverständlich, für sie war es das aber eben nicht. Sie haben in dieser riesigen Halle mit 600 Menschen und ohne Privatsphäre gewohnt“, sagt Matthias. „Das hat mich sehr berührt.“
Das sind die schönen Momente einer Arbeit, die oft anstrengend ist. Die Schulen, mit denen der Jamliner zusammenarbeitet, entscheiden, welche Jugendlichen am Projekt teilnehmen können. Auch mit den lernschwachen Kindern aus den regionalen Bildungszentren arbeiten die Musiker zusammen. Gerade die Kinder, die im Klassenkontext Schwierigkeiten haben, sollen herkommen. Das kann schwierig sein, die Aufmerksamkeitsspanne bei manchen ist sehr gering, die drei Betreuer werden von den Bands schon mal auf Trab gehalten.
„Was ich gleich zu Beginn gelernt habe, ist, dass ungefähr 80 Prozent der Arbeit hier pädagogisch ist. Die Musik ist das Werkzeug, um den pädagogischen Teil zu vermitteln.“ Über die Musik sollen die Kinder lernen, zusammenzuarbeiten, aufeinander zu hören und auf andere Rücksicht zu nehmen. Soziale Grundwerte, die nicht alle von ihnen von zu Hause mit auf den Weg bekommen. Doch die Musik wirkt: „Wenn die Kinder an den Instrumenten sind, sind sie plötzlich ganz ruhig und vertieft“, sagt Matthias.
Um 13 Uhr müssen Collin, Abdurrahman, Angelina und Leonie los, sie sind spät dran, der Deutschunterricht fängt gleich an. Eilig haben sie es nicht, doch Matthias macht Druck. „Los jetzt, ihr seid schon zu spät!“ Eine Stunde hat jede Band Zeit, insgesamt sechs Bands pro Tag kommen in den Jamliner. Nach der Mittagspause kommt Lena von der nächsten Band. „Hey, pünktlich auf die Minute. Sonst seid ihr immer alle zu spät“, freuen sich Matthias und Isabel. Die anderen sind nicht pünktlich, nur ein Bandmitglied kommt später noch dazu, die anderen drei tauchen gar nicht auf. Heute müssen sie zu zweit an ihrem Song arbeiten. Thema des Lieds: Mobbing.
Dieser Beitrag stammt aus SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Dezember 2018. Das Magazin ist seit dem 29. November 2018 im Handel und zeitlos im Online Shop und als ePaper erhältlich!