SZENE HAMBURG: Jette, warum hast du dich entschieden, Annie Ernaux’ Buch „Die Jahre“ zu inszenieren?
Jette Steckel: Es ist das letzte Stück, das wir im Rahmen der Intendanz von Joachim Lux auf die Bühne bringen, und mit den beteiligten Schauspieler*innen arbeite ich zum Teil seit sechzehn Jahren zusammen. Ernaux hat eine Chronik von den 1950er-Jahren bis in die Nullerjahre geschrieben, wobei es ihr um die Dynamik der persönlichen Erinnerung geht. Von daher lag die Idee nahe, unsere eigene Chronik mit der einer ganzen Gesellschaft oder Menschheit kurzzuschließen.
Mit was für einem Text haben wir es zu tun? Einem Roman? Einer Autobiografie? Ernaux bezeichnet sich ja als Ethnologin ihrer selbst …
Sie nennt ihr Buch eine unpersönliche Autobiografie und benutzt die Personalpronomen „sie“, „wir“ und „man“. Ursprünglich wollte sie ihre eigene Sprache finden wie Marcel Proust in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Dann hat sie begriffen, dass ihr nur die Sprache aller zur Verfügung steht, und versucht, „ein universelles Licht“ auf das Leben einer Frau im Verhältnis zum Großen und Ganzen zu schreiben.
Proust unterscheidet in seinem Romanzyklus die „unwillkürliche Erinnerung“ – etwa anhand eines Geschmacks oder Geruchs – von der „willentlichen Erinnerung“, der er zutiefst misstraut, weil sie seiner Meinung nach nur verzerrte Bilder des ursprünglich Erlebten liefert. Welcher Natur sind Ernaux’ Erinnerungen und wie verlässlich sind sie?
Darüber kann man nur Vermutungen anstellen. Sie stellt vermeintlich vollkommen belanglose Erinnerungen wie den Kotfleck auf dem Laken der Großmutter oder den Fußabdruck eines Mädchens in frischem Lehm neben den Moment, in dem ihr Vater die Mutter zum Hackklotz zerrt und droht, sie mit der Axt umzubringen. Die Erinnerungen werden in viele unterschiedliche Verhältnisse gesetzt. Wahr ist davon theoretisch nichts. Jede Erinnerung ist radikal subjektiv, ihre Sammlung wirkt in der Aneinanderreihung und Beschreibung aber auch, als hätte sie eine Gültigkeit, die viele Menschen aus dem europäischen Westen mit ihr teilen.
Warum eignet sich der Text für die Bühne?
Ich hatte noch nie mit einem Text zu tun, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er einen so starken Dominoeffekt eigener Bilder in den Köpfen der Zuschauenden anstößt und einen so großen Echo-Raum eröffnet. Die Erinnerungen unserer Schauspielerin Barbara Nüsse, die zur Generation von Annie Ernaux gehört, decken sich zum Beispiel oft mit den Erinnerungen im Buch. Es sind Erinnerungen, die wir von unseren Eltern oder Großeltern kennen.
Großes Zusammenspiel: „Die Jahre“ bringt das gesamte Ensemble auf die Bühne
Hast du dich bei der Auswahl der Textstellen von diesen Bildern im Kopf leiten lassen oder eher von inhaltlichen Aspekten?
Die Dramaturgin Julia Lochte und ich haben versucht, einen Pfad durch den Text zu schlagen, der das Gleichgewicht hält zwischen großen politischen Entwicklungen, Ernaux’ persönlicher Entwicklung und dem gesellschaftlichen Zeitkolorit. Wir komprimieren den Text, versuchen aber, seine elliptische Form beizubehalten. Vor allem aber nutzen wir ihn als Reibungsfläche für ein quasi formales Vorhaben, nämlich eine Arbeit mit dem gesamten Ensemble.
Spricht Ernaux dann mit den fast fünfzig Stimmen des Ensembles?
Wir haben ein Kernensemble von sieben Schauspieler*innen unterschiedlichen Alters und Geschlechts, die quasi alle Aspekte von Annie verkörpern und mit denen ich jeden Tag arbeite. Samstags proben dann alle zusammen.
Ernaux’ Erinnerung entzündet sich an Fotografien, Kinofilmen, Aufzeichnungen, Gegenständen, Wörter, Melodien. Werdet ihr diese Elemente auch auf der visuellen beziehungsweise auditiven Ebene aufgreifen?
Wir haben viel dokumentarisches Video- oder Bildmaterial gesammelt, von den Frauen, die in den 1960er-Jahren verbotenerweise abgetrieben haben, bis zu Jean-Paul Sartres Beerdigung. Oft ist es aber langweilig, den Text einfach nur zu illustrieren. Da ist es dann vielleicht besser, einen Werbefilm zum Beispiel einfach selbst nachzuspielen.

Werden Erinnerungen zunehmend verdrängt oder verlieren sie ihren Wert in einer Welt, in der die digitalen Medien exzessiv unsere Gier nach immer neuen Eindrücken und Informationen bedienen?
Das glaube ich nicht. Am Anfang spricht Ernaux über die Vergänglichkeit von Erinnerungen. Irgendwann werden wir ein unbekannter Mensch auf einem Foto sein und in einer unbekannten Masse untergehen. Wenn ein Mensch stirbt, fühlt man, dass seine Erinnerungen für immer verloren sind. Diese Endlichkeit des Lebens und das Bedürfnis, festzuhalten, was man selbst empfunden hat, schwingen bei Ernaux immer mit. Auch wenn Erinnerungspotenziale wie der klassische Brief für immer verloren sind, werden uns die unwillkürlich ausgelösten Erinnerungen durch die Sinneswahrnehmung erhalten bleiben. Dabei ist die Art des Erinnerns oft sehr undurchsichtig. Man erinnert sich beispielsweise immer wieder an einen scheinbar vollkommen belanglosen Ort und weiß überhaupt nicht warum. Offenbar wurde dort etwas gedacht, begriffen oder gefühlt, sodass der Körper, der sich erinnert, diesen Ort markiert. Und unsere Möglichkeiten zu archivieren, nehmen ja eigentlich zu.
Irgendwann werden wir ein unbekannter Mensch auf einem Foto sein und in einer unbekannten Masse untergehen.
Jette Steckel über Ernaux
Zwanzig Jahre an einem Haus: Steckel beschreibt das Thalia als Theaterheimat
Wie sieht die Erinnerung an deine Zeit als Hausregisseurin am Thalia Theater aus, mit all den preisgekrönten Inszenierungen? Welche Eindrücke und Bilder haben sich am tiefsten in dein Gedächtnis eingebrannt?
Ich bin vor zwölf Jahren Hausregisseurin geworden, aber ich habe die ganzen sechzehn Jahre bei Joachim Lux inszeniert und vorher schon drei Jahre bei Ulrich Khuon. Wenn man mein erstes Studienprojekt mitrechnet, bin ich schon im zwanzigsten Jahr am Thalia Theater. Das ist fast ein Wunder, weil so etwas dem Theaterleben eigentlich vollkommen widerspricht. Ich habe auch an vielen anderen Häusern gearbeitet, aber das Thalia ist meine Theaterheimat. Ich war dabei, als mit Lux’ Antritt das Ensemble gegründet wurde und wir über hundert Vorsprechen gemacht haben. Der positive Kern der Ära Lux besteht für mich darin, dass da ein Ensemble zusammengefunden hat, das eine Art von Selbstbewusstsein, Autonomie und Selbstverständnis entwickelt hat, wie es für mich unvergleichlich ist und damit auch eine einzigartige Ensemblearbeit möglich macht. Man hat nie mit irgendwelchen subkutanen psychologischen Themen zu tun, sondern kann wirklich durchgehend kritisch, konstruktiv und vertrauensvoll miteinander arbeiten. Das habe ich an keinem anderen Theater erlebt.
Ist die „Ära Jette Steckel“ am Thalia Theater damit beendet?
Sonja (Anders, die im Herbst die Intendanz übernimmt, d. Red.) kenne ich schon sehr lange. Sie war Chefdramaturgin bei Khuon am Thalia Theater und am Deutschen Theater Berlin, wo ich mein zweites Standbein hatte. Nach „Die Jahre“ mache ich erst mal eine Pause, danach komme ich gerne zurück.