Harald Vitense: Von der Liebe zu den Menschen

Harald Vitense kellnert seit 37 Jahren in der legendären Traditionsgaststätte Nagel gegenüber vom Hauptbahnhof. Sechs Jahre davon als Rentner. Ein Gespräch mit unserem Hamburger des Monats über die Liebe zu Menschen
Kult-Kellner im Nagel: Harald Vitense
„Bin körperlich sehr fit“: Harald Vitense (©Markus Gölzer)

SZENE HAMBURG: Harald, was hälst du von der Rente mit 67?

Harald Vitense: Halte ich viel von. Ich bin jetzt 72 und arbeite immer noch. Aber wer nicht mehr mag und nicht mehr kann, der sollte doch gerne in Rente gehen. 

War dir schon immer klar, dass du in der Rente weiterkellnern würdest oder gab’s auch Momente, in denen du dir dachtest: Endlich Rente?

Diesen Moment gab’s keine Sekunde. Ich bin körperlich sehr fit, ich habe eine Riesenfamilie, sechs Kinder, vierzehn Enkelkinder, ein Urenkelkind, die mich auf Trab halten. Außerdem wird meine Frau immer bisschen nervös, wenn ich zu Hause bin.

Wie bist du ins Nagel gekommen?

Ich war damals im CCH (Congress Center Hamburg; Anm. d. Red.) im Service. Meine Schwiegermutter, Gott hab sie selig, war liiert oder befreundet mit einem Geschäftsführer von hier. Das Nagel hatte früher ein großes Weinangebot. Meine Schwiegermutter sagte: „Hey, du hast doch Ahnung von Weinen. Uns fehlen Leute zur Inventur, kannst du uns helfen?“ Ich erwiderte: „Für dich mach ich alles.“ Der ganze Raum hier ist unterkellert mit schmalen Gängen. Rechts und links standen die Weinflaschen. Ich bin also am Zählen, Machen, Schreiben, da steht plötzlich Sigi – der Kellner von diesem Foto da an der Wand – vor mir: „Deine Schwiegermutter hat erzählt, dass du Koch und Kellner gelernt hast. Willst du bei uns anfangen?“ Ich habe gesagt, ich hätte einen tollen Job im CCH. Sigi fing an, mich vollzusabbeln – und ich kam im engen Keller nicht an ihm vorbei, weil er so korpulent war. Irgendwann habe ich gesagt: „Ich komm mal auf einen Tag rum.“ Aus diesem Tag sind 37 Jahre geworden.

Harald liebt die Menschen

Was liebst du so an deinem Beruf, dass du gar nicht mehr aufhören willst?

Ganz einfache Sache: Ich liebe die Menschen. Alle Menschen. Zu Menschen mit Behinderung habe ich einen besonderen Draht. Wenn du mich mit zehn Leuten in die Reihe stellst und es läuft jemand mit Downsyndrom vorbei – der hält bei mir an. Ich bin mit einem behinderten Onkel groß geworden, hab selbst ein schwerstbehindertes Enkelkind, für das ich die Verantwortung habe. Meine Tochter hat Diabetes und ist leider zu krank. Gestern haben sie ihr das letzte Bein amputiert. Die hat jetzt 24-Stunden-Betreuung in Kiel. (Zeigt ein Handy-Foto von einer fröhlichen Frau im Patientenhemd). Das ist meine Tochter gestern mit meiner Frau im Garten. Sie ist gestern operiert worden und so sieht die schon wieder aus.

Das sieht man deiner Tochter nicht an, dass sie einen schweren Eingriff hinter sich hat.

Die ist so heavy. Auch vom Kopf her. Meine Tochter hat vier Kinder. Eines davon wie gesagt mit einer schweren Behinderung. Wir haben die Vollmacht für das Kind. Ich mach die menschliche Geschichte, meine Frau kümmert sich um die Papiere. Wir sind ein Team. Das ist natürlich gut. (Zeigt einen Handy-Film mit Harald und einer lachenden jungen Frau im Rollstuhl. Anm. d. Red.) Die lacht nie. Aber wenn ich komme und sie vollkaspere, dann lacht sie. Was die Leute denken, ist mir so was von egal.

Ich habe Freunde bis nach Bayern, die ich hier kennengelernt habe

Harald Vitense

„Wir sind Freunde geworden“

Und heute bist du schon wieder für deine Gäste da. Sind hier auch Freundschaften entstanden?

Ich habe Freunde bis nach Bayern, die ich hier kennengelernt habe. Witzige Geschichte auch: Ich bin Paulianer, eher links als rechts. Ein Gast aus Aschau am Chiemsee hat mir seine Karte gegeben und gefragt, ob ich nicht mal Lust hätte, vorbeizukommen. Ich lese mir das durch, und der heißt Pauli. Die ganze Familie, sein Vater, sein Urgroßvater, sein Sohn, alle heißen Pauli. Das fand ich als Pauli-Fan schon mal ganz witzig. Auch ihr Café heißt Café Pauli. Meine Frau und ich fahren hin, da ist das „Café“ eine ganze Freizeitanlage: Hotel mit Ferienwohnungen, ein Biergarten mit Blick auf die Kampenwand, ein Streichelzoo mit Meerschweinchen und Kaninchen. Die Paulis und wir sind Freunde geworden. Wir fahren seit 17 Jahren da hin. Dann habe ich hier einen Gast aus Rosenheim in Oberbayern kennengelernt, den Thomas. Ich habe ihm gesagt: „Wir sind im Café Pauli in Aschau, komm doch da mal hin.“ Wir sitzen mit Thomas und seiner Familie am Tisch, der Wirt kommt und die fallen sich erst mal in die Arme. Die kannten sich, und ich habe die unabhängig voneinander bei mir kennengelernt. Wie cool!

Kommen auch Gäste, die du nicht so gern magst?

Eigentlich duzen wir Gäste. Aber nur die, die sympathisch sind. Wenn du mal neben mir am Tisch sitzt und hörst, dass ich die sieze, dann weißt du, was los ist. Aber das sind von tausend zwei. Und wenn mal jemand unfreundlich ist, dann sage ich: „Entweder du sprichst vernünftig mit mir oder gar nicht.“ Es gibt nur die beiden Möglichkeiten.

Harald: Kellner mit eigenen Fanclub

Waren die Menschen früher höflicher oder weniger höflich?

Es gibt Nette, es gibt Doofe, überall. Hat sich nicht viel geändert. (Ein Herr kommt an den Tisch, verabschiedet sich und kündigt an, dass man sich morgen sehe. Anm. d. Red.) Das war einer aus meinem Fanclub in der Nähe von Wilhelmshaven. Acht Leute hat der Club. Die kommen zu meinem Geburtstag mit Buttons mit meinem Gesicht drauf. Das ist total geil. Wir schreiben uns auch, sind mittlerweile befreundet. Wie man in den Wald reinschreit, so kommt es wieder raus.

Wenn du einen Hamburger hast, dann hast du ihn

Harald Vitense

Wie haben sich die Kundenwünsche geändert im Lauf der Jahrzehnte?

Wir waren früher mehr auf Weine fokussiert, das wurde weniger, weniger, weniger. Jetzt wird mehr Bier getrunken. Weine verkaufen wir auch, aber wir hatten früher eine eigene Weinkarte. Heute bieten wir sechs Stück in der normalen Karte an.

Bietet ihr Modegetränke wie zum Beispiel Hugo an?

Hugo haben wir, aber wir mixen nicht. Wir bieten mittlerweile Espresso, Cappuccino, Caffè crema an – das hat sich schon geändert. Hat früher einer beim dicken Siggi einen Cappuccino bestellt, dann hat der einen Filterkaffee genommen und Schlagsahne drauf gemacht. Das war dann der Cappuccino. Siggi war so geil. Das kannst du heute natürlich nicht mehr machen (lacht).

Im Nagel sieht man alles vom Arbeiter bis zum Professor

Das Nagel gilt als Hamburgensie, als typisch Hamburg. Was ist für dich typisch Hamburg?

Man sagt immer, die Hamburger wären stur. Aber das stimmt gar nicht. Wenn du denen ehrlich gegenübertrittst, kriegst du auch was zurück. Die sind einfach nicht oberflächlich. Aber wenn du einen Hamburger hast, dann hast du ihn.

Waffenverbot ist okay. Aber Alkoholverbot? Nee!

Harald Vitense

Ist das Nagel auch typisch St. Georg?

Das kann man sagen. Wir haben Gäste aus der Nachbarschaft: Arme, Reiche, Abgehängte, Lebenskünstler. Wir haben die ganzen Leute, die hier arbeiten und den Zug nehmen müssen. Die trinken dann noch einen Kaffee oder ein Bier. Und wir haben die Theatergäste. Die bestellen mehr High Class. Bei uns hast du alles vom Arbeiter bis zum Professor. Ein bunter Mix – wie St. Georg.

Gibt’s eine besonders gute Zeit, herzukommen?

Du kannst den ganzen Tag kommen. Aber natürlich haben wir Stoßzeiten. Ab 18 Uhr, wenn das Abendgeschäft anfängt, ist mehr Betrieb. Bei Fußball ist die Hölle los. Wenn der HSV gespielt hat, haben wir früher um 9 Uhr aufgemacht. Da standen die Leute schon Schlange.

Im Hamburger Hauptbahnhof gilt seit Kurzem ein Alkoholverbot. Wie findest du diese Regelung?

Albern. Die einzige Klientel, die hier mit Alkohol in der Hand rumläuft, das sind die Polen. Diese Leute haben null Geld. Die leben teilweise auf der Straße. Was will der Staat denn machen, wenn er die erwischt? Eine Geldstrafe verlangen? Von was, bitte? Diese Regelung trifft nur die, die eh nichts haben. Was für ein alberner Kram. Das waren wieder so Sesselpuper, die sich das ausgedacht haben. Waffenverbot ist okay. Aber Alkoholverbot? Nee!

Die Traditionsgaststätte Nagel

Dieser Artikel ist zuerst in SZENE HAMBURG 06/2024 erschienen.

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