Kolumne „Offen gesagt“: Traditionell durch Raum und Zeit

Markus Gölzer stimmt in seiner Kolumne „Offen gesagt“ eine Ode an die Tradition an und bedauert das, was vergeht
Wenn beim Self-Check-out nur noch ein klägliches Piepsen zu hören ist, erinnert sich Markus Gölzer an die Kassiererin, die nie weiß, was sein Lieblingswein kostet und verabschiedet sich von ihr und vielem anderen lieb gewonnenem (©Michael Pfeiffer)

Traditionen sind Zeitmaschinen, die behutsam bedient werden wollen. Ein falsches Knöpfchen gedrückt, schon landet man bei Primaten, die nur einen zusammenhängenden Satz rausbringen: Das war schon immer so. Sie hassen alles, was anders aussieht oder lebt als die eigene inzestuöse Brut. Warum? War schon immer so. Nichts wie weg von den ewig Vorgestrigen und ab in die jüngere Vergangenheit. Hier war nicht alles schlecht. Das Homeoffice unserer Tage hat seine Vorteile – das traditionelle Ablästern, sobald ein Kollege den Raum verlässt, bietet nur das gute, alte Büro. Wie auch das Feierabendgefühl, wenn die Firmentür hinter dir ins Schloss fällt. Nicht mal der Montagsblues will sich einstellen, wenn du im Homeoffice den Bademantel erst am Donnerstagabend ablegst.

Immer mehr Traditionen stehen in den Startlöchern, um sich endgültig zu verabschieden: Die Kassiererin aus Fleisch und Blut, die nie weiß, was dein Lieblingswein kostet und jedes Mal telefonisch nachfragt, weil sie deiner Preisangabe nicht traut. Woche für Woche, seit Jahren. Der Familienbetrieb mit seiner fast lächerlich guten Beratung. Da fällt dem Self-Check-out nur noch ein klägliches Piepsen ein. Auch eine Tradition, die sich selbst nicht als traditionell versteht, ist akut gefährdet: die Clubkultur. Und ich rede nicht vom Ballermann. Sternbrückenabriss und Stadtautobahn A100 – verkehrspolitische Monsterprojekte sind dabei, subkulturelle Institutionen in Hamburg und Berlin dem Erdboden gleichzumachen. Sind das dann überhaupt noch Großstädte? Oder aufgeblasene Provinzkäffer, bei denen das Aufregendste der Mietspiegel ist? Und sind nicht eigentlich Autos und eitle Monumentalbauten Auslaufmodelle? Egal. Wozu gibt’s Zeitmaschinen? Wahlhebel auf „T“ und ab zum Tanzen, als gäbe es kein Morgen.

Markus Gölzer ist textender Exil-Bayer und lebt seit über 20 Jahren auf St. Pauli. Seine Kolumne „Offen gesagt“ erscheint jeden Monat in der SZENE HAMBURG.

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