Ein zutiefst religiöses Werk ohne jeglichen Pathos: Die Hamburger Staatsoper inszeniert die Matthäus-Passion in den Deichtorhallen
Die Boulevard-Presse leckte sich im Vorfeld die Finger, weil der skandalumwobene Regisseur Romeo Castellucci Bachs Werk auf die Bühne bringen sollte. Sie allein wurde enttäuscht. Bestürzend waren höchstens die ungewöhnlich vielen ärztlichen Notfälle im Publikum, die als ungeplante Allegorie manche Zuschauer auf bizarre und unmittelbare Weise erschütterten. Castellucci selbst verzichtet auf jede emotionale Verdichtung des Stoffes: „grelles Putzlicht“ in der riesigen, nüchternen Ausstellungshalle, der Chor, das Philharmonische Staatsorchester inklusive Kent Nagano, die sechs Solisten, die Bänke, die Wände, der Boden – alles in Weiß.
Der Text wird an die Rückwand geworfen, zwischen Musikern und Publikum liegt eine weite Projektionsfläche auf der moderne Allegorien zu den biblischen Passagen entstehen. Der Zuschauer hat ein Heft an die Hand bekommen, mit dessen Hilfe er Text, Bild und Musik zu einem komplexen Symbol zusammensetzen kann. 18 Bilder, die jedes für sich eine eigene Inszenierung darstellen.
Ein Beispiel: VII Einsamkeit – Jesus betet im Garten Gethsemane bevor er von Judas verraten wird, der Tenor Bernhard Richter singt die 20. Arie, eine weiße Matte mit schwarzem Ring in der Mitte wir hineingezogen, zwei Ringer des Wandsbeker Athleten Club treten ein und beginnen miteinander zu ringen. Die Vielschichtigkeit der Allegorien und ihr Bezug zur Gegenwart versetzen die Matthäus-Passion in das Jetzt und Hier. Sogar die Musik verliert ihre religiöse Kraft, die Bachs Version des Leiden Christi in einer Kirche entfalten kann.
Eine Inszenierung also, bei der die Zuschauer den Kopf einschalten müssen, und das ist genau das richtige Zeichen in Zeiten des religiösen Fanatismus.
Text: Lisa Scheide
Internationales Musikfest – Eröffnungsstück der Staatsoper in den Deichtorhallen