Lilith Stangenberg: „Wo es stinkt und wehtut, wird es interessant“

„Antigone“ ist Karin Beiers letzte Inszenierung der fünfteiligen „Anthropolis“-Serie, die im September mit „Prolog/Dionysos“ begann und vom 17. bis 19. November 2023 erstmals auch komplett an einem Wochenende im Deutschen Schauspielhaus zu erleben ist. In der Titelrolle revoltiert Film- und Theaterschauspielerin Lilith Stangenberg gegen den König, indem sie dessen Verbot missachtet, ihren Bruder, den Staatsfeind Polyneikes, zu beerdigen
Liebt die Extreme: die Berliner Schauspielerin Lilith Stangenberg (©Thomas Aurin)

SZENE HAMBURG: Lilith, was haben Figuren der griechischen Antike uns heute noch zu sagen?

Lilith Stangenberg: Für mich steckt sehr viel Gegenwart in den antiken Stücken. Ein Grund, weshalb ich immer wieder ans Theater zurückkehre, liegt darin, dass die alten Texte einem den Spiegel vorhalten, weil wir in ihnen auf die Wurzeln unserer eigenen Logik, Vernunft und Werte treffen. Dabei begreife ich mehr über mich selbst, als es bei Gegenwartsdramatik der Fall ist.

Obwohl die damalige Theatersprache sich von der heutigen Gegenwartssprache doch sehr unterscheidet …

Wir arbeiten ja mit den Übersetzungen von Roland Schimmelpfennig, die mir sehr ungefiltert vorkommen. Die Texte haben nichts Geschwollenes oder Fremdartiges mehr.

Die Ordnung braucht das Chaos

Lilith Stangenberg

Wem würde man nach heutigen Wertvorstellungen recht geben: Antigone, die gegen das staatliche Verbot ihren Bruder begräbt, oder König Kreon, für den Gesetz und Ordnung das Maß aller Dinge sind?

Wir versuchen, die Positionen von Antigone und Kreon, zwischen altem und neuem Recht, Frau und Mann, Jugend und Alter so ambivalent und komplex wie möglich herauszuarbeiten. Die Entscheidung, mit welcher Figur ich mitgehe, soll einem kompliziert gemacht werden.

Was reizt dich an der Figur der Antigone?

Dass sie nicht ideologisch, sondern sehr subjektiv und widersprüchlich ist. Mit ihrer ganz individuellen Position stellt sie sich gegen die Autorität. Dass sie so unbeugsam und kompromisslos ist und einfach tut, was sie für richtig hält, ist ein wichtiges Signal für die Gesellschaft. Auch wenn solche Störenfriede und Querulanten uns nerven, sind sie politisch relevant. Die Ordnung braucht das Chaos.

Um sich die Menschlichkeit zu bewahren?

Ich glaube, jeder Mensch ist auf eine bestimmte Art verrückt. Alle Menschen widersprechen sich und handeln oft sinnlos. In den Heldengeschichten des Hollywood-Kinos wird immer versucht, das zu glätten, wodurch die Zerrissenheit und die Doppelnatur des Menschen auf der Strecke bleibt. Dagegen stehen die Figuren in den alten Stücken wie Skelette vor einen, in die man ganz viel hineininterpretieren kann. Man sollte aber aufpassen, dass man sie nicht zu vernünftig spielt, weil das Werteverständnis damals ein ganz anderes war.

Die „Anthropolis“-Serie im Deutschen Schauspielhaus

Worin besteht Antigones „Verrücktheit“?

Sie hat einen fast ekstatischen Blick auf den Tod, eine fast suizidale Bereitschaft, für ihre Überzeugung zu sterben. Das finde ich faszinierend. Vielleicht gibt es eine Form des vererbten Narzissmus bei ihr. Als Tochter von Ödipus stammt sie ja aus einem Königsgeschlecht. Außerdem ist sie ein Inzest-Kind. Da kommt schon sehr viel zusammen.

Du arbeitest das erste Mal mit Karin Beier zusammen. Wie würdest du sie als Regisseurin beschreiben?

Sie lässt mir sehr viel Freiheit auf der Bühne, passt aber andererseits wie ein Wachhund auf, dass ich mich nicht verirre. Dadurch wird man einerseits ermutigt loszulassen, sich etwas zu trauen und nicht zu viel zu reflektieren. Weil ihr wachsames Auge aufpasst, wenn man sich vertut. Für mich ist das eine sehr wohltuende, erfüllende Zusammenarbeit, auch weil ich die letzten Jahre mit sehr experimentellen Extremkünstlern zusammengearbeitet habe und meistens auf mich allein gestellt war. Außerdem sind ein weiblicher Blick und die epische Kraft ihrer Arbeit für „Antigone“ sehr spannend.

Zuletzt warst du im August 2022 zusammen mit Skandalkünstler Paul McCarthy in der nicht jugendfreien Performance „A&E / Adolf & Eva / Adam & Eve / Hamburg“ über die sadomasochistische Beziehung Adolf Hitlers zu Eva Braun am Schauspielhaus zu sehen. Danach sprach die Presse angesichts der schonungslosen Exzesse auf der Bühne von einer „Vergewaltigung der Sinne“. Verletzen dich solche Worte?

Früher habe ich mir Kritiken mimosenhaft sehr zu Herzen genommen, aber seit etwa zehn Jahren beschäftige ich mich kaum noch damit und bin in dieser Zeit, glaube ich, eine viel unabhängigere Schauspielerin geworden. Wenn ich zu viel Wert auf die Presse- und Publikumsreaktionen legen würde, könnte ich so eine Arbeit auch gar nicht machen. Natürlich möchte jeder Mensch gefallen und geliebt werden. Aber wenn man das einmal überwindet und eher etwas für sich selber tut, wird man freier, was für die Kunst sehr wichtig ist.

Viele Menschen würden einem Projekt wie „Adolf & Eva“ womöglich den Kunststatus absprechen …

Dass so ein Stoff, an dem wir dreieinhalb Jahre gearbeitet haben, in einem „normalen“ Theater auf viel Ablehnung und Widerspruch trifft und auch im deutschen Feuilleton nicht besonders gut ankommt, wundert mich überhaupt nicht. Mit wundert eher, wie einfach es sich manche Leute machen, wenn sie die Figuren gleich als perversen alten Nazi und als Schlampe abqualifizieren. Da wird gar nicht erst versucht, die philosophische Dimension zu betrachten. Paul kommt ja von der Malerei her. In den Gemälden von Velásquez oder Goya geht es immer um Mord und Totschlag, Blut, Brutalität und Erotik. Vor dem Hintergrund dieser Tradition haben wir versucht, die Sprache und Poesie beispielsweise eines Marquis de Sade in Bilder zu übersetzen. Wenn ich aber darüber nachdenke, was wir bei „Adolf & Eva“ gemacht haben, überrascht es mich immer noch, dass das stattfinden durfte, dass wir so weit gehen konnten und ich jetzt immer noch auftreten darf.

Künstlerische Auseinandersetzung

Die Zeiten der Theaterzensur sind ja zum Glück vorbei …

Obwohl sich das durch die derzeitige gesellschaftliche Bewegung auch verändert hat. Besonders bei der jüngeren Generation fällt mir eine Überreflektiertheit auf. Alle wollen immer alles richtig machen. Manchmal vernebelt das einem den Kopf. Ich glaube, Brecht hat einmal gesagt, wenn man alle Stücke von Schamlosigkeit befreit, kreiert man nicht die besseren Stücke, sondern die dümmeren Zuschauer. Die Pisse und Kacke, da wo es stinkt und wehtut, der Schmerz, Wahnsinn und Tod – das sind doch eigentlich die Momente, in denen es interessant wird. Wie fruchtbar kann die künstlerische Auseinandersetzung sein, wenn man das alles von vorherein ausklammert?

Im Vorfeld der Aufführung von „Adolf & Eva“ hast du von der kathartischen Wirkung des Theaters gesprochen. Nach der altgriechischen Dramentheorie soll das Bühnenspiel eine „reinigende“ Wirkung auf das Publikum ausüben, es von Ängsten befreien und seine Leidenschaften kanalisieren. Gilt das auch für dich als Schauspielerin?

Ich bin überzeugt, dass die Begegnung zwischen Publikum und Bühne etwas Erotisches hat. Walter Benjamin hat einmal gesagt: Die alte Tragödie ist wie ein Film, und der Zuschauerraum ist der Entwickler. Es geht also wirklich um Chemie und Alchemie. Von den Prozessen auf der Bühne sind Zuschauer und Schauspieler gleichermaßen betroffen. Deshalb habe ich mit Blick auf die sehr extremen Arbeiten der letzten Jahre auch oft von einem Exorzismus gesprochen. Als würde man sich diesen dunklen Themen für den Moment ausliefern, um dann privat davon entlastet zu werden. Es gibt aber einen Punkt, an dem ich nicht mehr genau zwischen Realität und Spiel unterscheiden kann. Die Felder vermischen sich, deshalb muss man „hygienisch“ sein in der Wahl der Stoffe, denen man sich aussetzt.

„Antigone“ spielt am 10. November 2023 (Uraufführung) und 12. November 2023 im Deutschen Schauspielhaus; „Anthropolis“-Marathon“: 17. bis 19. November 2023 und weitere Termine

Dieser Artikel ist zuerst in der SZENE HAMBURG 11/2023 erschienen.

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