Draußen ist es ungemütlich und viele zieht es mit einem warmen Tee aufs Sofa: Höchste Zeit für ein richtig gutes Buch. Die SZENE HAMBURG-Redaktion hat in ausgewählten Hamburger Buchläden nachgefragt und zehn Bücher zum Verschenken und gemütlichen Schmökern gefunden – und dazu gibt es einen Tipp vom Literaturexperten der SZENE HAMBURG
Text: Felix Willeke, Katharina Stertzenbach & Marie Oetgen
Ayse Altin von der Buchhandlung Ida von Behr (Volksdorf) empfiehlt:
„Freundin bleibst du immer“ von Tomi Obaro
Die Buchhandlung Ida von Behr in Volksdorf gibt es seit 1953 und heute ist sie eine Institution. Ayse Altin hat hier ihre Ausbildung gemacht und führt die Buchhandlung mittlerweile seit 20 Jahren.
„Man kennt das, wenn man Freund:innen aus der Schulzeit nach vielen Jahren wiedersieht und sofort ist es wie früher. Genau davon erzählt ‚Freundin bleibst du immer‘ von Tomi Obaro. Der Debütroman der in New York lebenden Autorin erzählt die Geschichten von Funmi, Enitan und Zainab, drei Freundinnen aus Nigeria mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Eine ist Muslima, die beiden anderen christlich; eine hat immer nach Sicherheit gestrebt und ist heute alleinerziehend, die nächste heiratet reich und verbringt ihr Leben fortan in einem goldenen Käfig und die dritte pflegt ihren Mann nach einem Schlaganfall. Nach 30 Jahren sehen sich die drei, deren Lebensgeschichten Obaro bis dahin parallel erzählt, bei der Hochzeit der Tochter von Funmi in Lagos, Nigeria, wieder. Sie blicken zurück, voraus und wenn das Thema mal schwer wird, wird auch zusammen gelacht. ‚Freundin bleibst du immer‘ ist ein wunderbar leichtes Buch, das durchaus Anspruch hat – perfekt zu Weihnachten.“
Tomi Obaro: „Freundin bleibst du immer“, Hanser Blau, 320 Seiten, 24 Euro
Ulrich Hoffmann von der Buchhandlung Ulrich Hoffmann (Barmbek) empfiehlt:
„Lincoln Highway“ von Amor Towles
Seit 1982 gibt es die Buchhandlung Ulrich Hoffmann unweit des Barmbeker Bahnhofs. Die Sortimentsbuchhandlung hat ein breites Angebot von Belletristik über Biografien bis zu Kinderbüchern. Ullrich Hoffmann selbst steht nach 40 Jahren immer noch hinterm Tresen.
„‚Lincoln Highway‘ von Amor Towles ist für mich einfach richtig gute Literatur. Eine Coming of Age-Geschichte, die in den USA spielt: Der 18-jährige Emmett kommt aus dem Gefängnis frei und beschließt nach dem Tod des Vaters mit seinem kleinen Bruder vom Osten des Landes über den Lincoln Highway in den Westen zu fahren, wo sie die Mutter vermuten. Doch statt der Fahrt mit dem 48er Studebaker gen Westen, entwickelt sich alles ganz anders. Es tauchen zwei Freunde von Emmet aus dem Gefängnis auf und diese haben ein anderes Ziel. Daraus entwickelt sich eine Abenteuergeschichte in den USA der 1950er-Jahre mit vielen schrillen Figuren wie einem gefährlichen Pastor, einem Landstreicher und einem arbeitslosen Schauspieler. Kurzum: Eines der Bücher mit großem Lesevergnügen.“
Amor Towles: „Lincoln Highway“, Hanser, 576 Seiten, 26 Euro
Sarah O’Connor von der Buchhandlung stories! (Hoheluft-Ost) empfiehlt:
„Planet ohne Visum“ von Jean Malaquais
Seit 2008 gibt es die Buchhandlung stories! in Hoheluft-Ost. In der modernen Einrichtung stehen auch optisch die Bücher im Mittelpunkt. Seit acht Jahren ist Sarah O’Connor Teil des Teams und führt zusammen mit ihrer Kollegin durch die Leseabende auf Englisch.
„‚Planet ohne Visum‘ von Jean Malaquais ist ein Buch, bei dem ich nicht lange lesen musste, um zu verstehen, dass ich ein wahrhaftes Meisterwerk in den Händen halte. 75 Jahre nach der Veröffentlichung im französischen Original, ist es jetzt auch erstmals in deutscher Sprache erschienen. Schauplatz ist Marseille im Jahr 1942: Ein Ort der Verheißung und Freiheit für einige, für andere ein Weg in die Deportation und Gefangenschaft. Malaquais lässt ein Füllhorn an Charakteren auftreten, viele an Personen aus seinem Bekanntenkreis angelehnt: Anna Seghers, Hannah Arendt, Victor Serge, Lion Feuchtwanger und andere. Auch dem Amerikaner Varian Fry, der in Marseille ein Rettungsnetzwerk führte und unter anderem Malaquais selbst zur Ausreise verhalf, wird ein literarisches Denkmal gesetzt. Wir begegnen Resistancekämpfer:innen, Kollaborateuren, Opportunisten, Spitzeln, Denunzianten und Menschen, die darum kämpfen, ihre Menschlichkeit zu bewahren. Für mich ist ‚Planet ohne Visum‘ eines der Bücher für das Erinnern, gegen das Vergessen und für die Freiheit.“
Jean Malaquais: „Planet ohne Visum“, Nautlius, 664 Seiten, 32 Euro
Bettina Wittich vom Buchladen in der Osterstraße (Eimsbüttel) empfiehlt:
„Im Berg ist ein Leuchten“ von Andri Perl
„… lesen fängt links an“, das ist seit 1978 das Motto des Buchladens in der Osterstraße. Und so verwundert auch nicht große Auswahl an politischen Sachbüchern. Heute führt Bettina Wittich den Buchladen zusammen mit Ute Meyer und Torsten Meinicke. Der Buchladen in der Osterstraße gewann außerdem den Hamburger Buchhandlungspreis 2022
„Mich hat ‚Im Berg ist ein Leuchten‘ von Andri Perl unheimlich überrascht. Gerade solch stille Bücher hallen nach. Perl hat etwas ganz reduziertes, poetisches und graziles in seiner Sprache und die feinen kontrastreichen Zeichnungen von Adina Andrès machen das Buch zu einer kleinen Kostbarkeit.
Inhaltlich begleiten die Leser:innen die Protagonistin Lisa auf die Reise in ihr Heimatdorf im schweizerischen Engadin. Ihr Vater ist vor Jahren spurlos verschwunden und jetzt ist sie auf der Suche nach Antworten. In ihrem Heimatdorf gibt es viele Geschichten über das Verschwinden des Vaters. Und diese rotieren alle um eine Insel unterhalb des Dorfes, wo sich eine kleine Bergbausiedlung und ein stillgelegtes Bergwerk befinden. Genau hier ist der Vater zuletzt gesehen worden. Als Wildhüter wollte er dieses Gebiet schützen und ist dabei auf Widerstand im Dorf gestoßen. All das erfährt Lisa bei ihrer Rückkehr in ihre Heimat – in Gesprächen mit einem alten Lehrer, mit Verwandtschaft und auch mit der ehemaligen Kollegin ihres Vaters. Diese Gespräche ergeben einen tollen Lese- und Redefluss über sechs Kapitel lang und sie führen dazu, dass Lisa ganz unaufhaltsam zum Kern der Wahrheit geführt wird.“
Andri Perl: „Im Berg ist ein Leuchten“, Salis Verlag, 120 Seiten, 20 Euro
Wolf Guierens von der Buchhandlung Seitenweise (Hamm) empfiehlt:
„Die Unterwerfung“ von Philipp Blom
Schon seit über 20 Jahren gibt es die Buchhandlung Seitenweise in Hamm. Dabei ist sie mehr als eine Buchhandlung: Als kulturelles Netzwerk organisiert die Nachbarschaft von hier aus viele Veranstaltungen im Stadtteil. Die Buchhandlung Seitenweise gewann außerdem den Hamburger Buchhandlungspreis 2022
„‚Die Unterwerfung‘ von Philipp Blom ist kein populäres historisches Sachbuch, das nur mit rudimentärem Wissen daherkommt. Wenn sich Blom, der von Haus aus Historiker und Philosoph ist, sich in einem seiner Bücher einem Thema annimmt, dann ist das meist sehr fundiert recherchiert. In seinem neuen Buch nimmt er sich die die Unterwerfung der Natur durch menschliche Zivilisation vor. Seit der Antike hat der Mensch sich die Natur, anfangen von Landwirtschaftlicher Flächennutzung, unterworfen und das reicht bis heute und der derzeitigen Debatte rund um die Klimakrise. Blom hat mit ‚Die Unterwerfung‘ ein lehrreiches und anspruchsvolles Buch vorgelegt, das auch einiges an Vorwissen erfordert. Doch wenn man sich Zeit nimmt, kann ‚Die Unterwerfung‘ sehr bereichernd sein“
Philipp Blom: „Die Unterwerfung“, Hanser Verlag, 368 Seiten, 28 Euro
Pascal Mathéus und Florian Wernicke von Kortes Buchhandlung (Blankenese) empfehlen:
„Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter
Seit dem Oktober 2022 sind Pascal Mathéus und Florian Wernicke die Neuen in der Buchhandlung Kortes. Seit 1946 gibt es den Laden in der Elbchaussee. Jetzt wollen die beiden zusammen mit Cathrin Stenzel altbewährtes in der Traditionsbuchhandlung erhalten und mit Neuem ergänzen, wie dem Webshop und dem Blankeneser Bücherbrief, dem neuen Newsletter der Buchhandlung.
„Dinçer Güçyeter ist eigentlich Lyriker und Verleger mit seinem Lyrik-Verlag ELIF. Den Verlag finanziert er bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. ‚Unser Deutschlandmärchen‘ ist Güçyeters erste Prosa. Eine Familiengeschichte, in der sich Frauen mehrerer Generationen und der in Deutschland geborene Sohn in poetischen, oft mythischen, kräftigen Bildern und in Monologen, Dialogen, Träumen, Gebeten, Chören erinnern. Viele private Fotos des Autors veranschaulichen den Prosatext. Angelehnt ist der Roman an die Biografie Dinçer Güçyeters und trotzdem ist dieses keines der autobiographischen Bücher, sondern rein fiktional. Nicht ohne Grund ist der Roman als ‚Märchen‘ betitelt, denn Güçyeters Erzählweise hat durchaus etwas märchenhaftes an sich.“
Dinçer Güçyeter: „Unser Deutschlandmärchen“, mikrotext, 216 Seiten, 25 Euro
Andreas Mahr von der Buchhandlung Christiansen (Ottensen) empfiehlt:
„Flussregenpfeifer“ von Tobias Friedrich
Fast 150 Jahre, so lange gibt es schon die Buchhandlung Christiansen am Spritzenplatz in Ottensen. Damit ist sie die älteste Buchhandlung Hamburgs und schon immer in Familienbesitz. Andreas Mahr ist seit 2008 Teil des zehnköpfigen Teams bei Christiansen und schon seine Großeltern kauften ihre Bücher hier ein.
„‚Der Flussregenpfeifer‘ ist Tobias Friedrichs Debütroman. Er erzählt die unglaubliche aber wahre Geschichte des Hamburgers Oskar Speck, der über sieben Jahre lang mit seinem Faltboot 50.000 Kilometer bis nach Australien fuhr. Die Reise beginnt im Mai 1932, als sich Speck mit seinem Boot nach Zypern aufmacht. Der eigentliche Plan: Nach sechs Monaten wieder zurückkehren. Aber es kommt alles ganz anders. Gepackt von sportlichem Ehrgeiz, begleitet von Jazzmusik und Mark Twains weisem Witz, fährt der schweigsame Einzelgänger von Zypern aus immer weiter in die Welt. Auch weil die Nationalsozialisten ihn jagen und aus ihm einen deutschen Helden machen wollen. ‚Der Flussregenpfeifer‘ ist ein echter Abenteuerroman und ist eines der der neusten Bücher mit Hamburg-Bezug, der auf einer wahren Gegebenheit beruht. Friedrich nimmt seine Leser:innen mit auf eine Reise voller Freundschaft, Freiheitsliebe und starker Frauen.“
Tobias Friedrich: „Der Flussregenpfeifer“, C. Bertelsmann, 512 Seiten, 24 Euro
Robert Eberhardt von der Buchhandlung Felix Jud (Neustadt) empfiehlt:
„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“
Robert Eberhardt ist seit drei Jahren bei Felix Jud und seit 2022 auch Inhaber der Buchhandlung, die 2023 ihren 100. Geburtstag feiert. Felix Jud ist dabei Buchhandlung, Galerie und Antiquariat zugleich und über die Jahre hat sich eine durchaus prominente Stammkund:innenschaft am Neuen Wall etabliert.
„Der Bildband ‚50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier‘ zeigt die Entwicklung von John Neumeier, seinem Ballett und seinem Wirken in Hamburg insgesamt. Zwar gibt es auch einige kleine Texte, jedoch steht die Fotografie ganz klar im Mittelpunkt. Durch sie werden Augenblicke dieser flüchtigen Kunstform festgehalten. Und auf eine sinnliche Art und Weise wird deutlich, was Neumeier – der einer von fünf lebenden Hamburger Ehrenbürgern ist – für das Ballett, aber auch darüber hinaus für die Stadt in den letzten 50 Jahren geleistet hat – ein Leben und Wirken, das sicherlich einzigartig bleiben wird. Selbstverständlich empfiehlt man Bücher wie dieses allen Ballett-Fans, doch ich würde es allen kulturinteressierten Menschen ans Herz legen, denn dieses Werk und das Vermächtnis von John Neumeier werden bleiben, auch wenn er 2023 aufhört.“
„50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“, Henschel, 256 Seiten, 49 Euro
Ulrike Kirschner von der Sachsentor Buchhandlung (Bergedorf) empfiehlt:
„Dschinns“ von Fatma Aydemir
Die Buchhandlung Sachsentor in Bergdorf gibt es seit über 30 Jahren und fast genauso lange ist Ulrike Kirschner mit dabei. Mittlerweile führt mit Jörg Johannsen der Sohn der Gründer die Institution am Sachsentor.
„Der Roman ‚Dschinns‘ von Fatma Aydemir beginnt mit der Erzählung von Hüseyin, der 30 Jahre lang in Deutschland gearbeitet und jeden Cent beiseite gelegt hat, um sich den Traum von der Eigentumswohnung in Istanbul zu erfüllen. Doch am Tag des Einzugs stirbt er an einem Herzinfarkt. So reist die ganze Familie nach Istanbul, doch statt Wohnungsbesichtigung ist die Beerdigung der Anlass. Die Familie, das sind sechs grundverschieden Menschen, deren Geschichten Aydemir sehr lebendig erzählt. Und als sie gegen Ende die Geschichte der Mutter erzählt, wird auch der Titel des Buches klar: Dschinns steht in diesem Fall für Geheimnisse und Menschen, über die man nicht spricht. So auch der Fakt, dass die Eltern Kurden sind, was dem Buch eine politische und hochaktuelle Dimension verleiht. Eines der intensiveren Bücher, das nicht umsonst auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2022 stand.“
Fatma Aydemir: „Dschinns“, Hanser, 368 Seiten, 24 Euro
Katja Cebulla von der Buchhandlung am Sand (Harburg) empfiehlt:
„Über die See“ von Mariette Navarro
Seit 2004 gibt es die Buchhandlung am Sande im Zentrum Harburgs. Nach dem Umbau 2020 finden im kleinen hauseigenen Café auch immer wieder Lesungen statt. Der Fokus der Buchhandlung am Sand liegt nach wie vor auf Belletristik sowie Kinder- und Jugendliteratur. Die Buchhandlung am Sand gewann außerdem den Hamburger Buchhandlungspreis 2022.
„‚Über die See‘ von Mariette Navarro handelt von einer erfahrenen Kapitänin, welche mit ihrem Containerschiff mit Kurs auf die Tropen unterwegs ist. Mitten auf dem Ozean äußert ihre Mannschaft den ungewöhnlichen Wunsch, im Meer schwimmen zu gehen. Entgegen allen Sicherheitsbestimmungen gibt die Kapitänin dem Wunsch nach und die Männer werden ins Meer hinabgelassen.
In ihrem Buch spielt Navarro auf faszinierende Weise mit den Wahrnehmungen der Figuren und der Leser:innen. Da ist die Kapitänin, die während ihre Mannschaft im Meer ist, mit dem Alleinsein auf dem riesigen Schiff konfrontiert ist. Dann ist da die anfängliche Euphorie der Mannschaft im Meer, die nicht bei allen bleibt. Und Schlussendlich sind da die Leser:innen, die sich bei ‚Über die See‘ auf eine atmosphärische Geschichte mit vielen poetischen Bildern freuen können – für alle die gerne schmale Bücher mit starker Wirkung lesen.“
Mariette Navarro: „Über die See“, Kunstmann, 160 Seiten, 20 Euro
Daniel Schieferdecker, Ressortleiter Literatur SZENE HAMBURG empfiehlt:
„Imperium der Schmerzen“ von Patrick Radden Keefe
„Das Buch ‚Imperium der Schmerzen‘ von Patrick Radden Keefe ist eine Geschichte über Geschwister, die durch ihr Wirken die Welt ins Wanken brachten: Die Brüder Sackler. Reich geworden durch das Bewerben von Valium entwickelte ihr Pharmaunternehmen Purdue Pharma das stark süchtig machende Blockbuster-Medikament Oxycontin. Insbesondere durch die aggressive Vermarktung dieses Medikaments gilt es als Auslöser der Opioidkrise in den USA, das Millionen Menschen in die Abhängigkeit stürzte. Autor Patrick Radden Keefe zeichnet in „Imperium der Schmerzen“ ein verstörendes Sittengemälde einer von Gier und Machtstreben getriebenen Industriellenfamilie, die über Leichen geht. Packend, erhellend, ernüchternd.“
Patrick Radden Keefe: „Imperium der Schmerzen“, Hanser, 640 Seiten, 36 Euro