Mit ihrem aktuellen Buch „Nebenan“ stand die Hamburger Autorin auf der diesjährigen Shortlist für den Deutschen Buchpreis, den letztlich Kim de l’Horizon mit „Blutbuch“ gewann. Im Interview spricht Bilkau über die kreative Kraft der Leere, die Vorteile der sozialen Medien und die Sehnsucht nach Stabilität
Interview: Daniel Schieferdecker
SZENE HAMBURG: SZENE HAMBURG: Kristine Bilkau, Sie sind in Hamburg geboren und aufgewachsen. In einem Interview haben Sie mal gesagt, dass Orte das soziale Miteinander prägen. Welchen Einfluss hat die Stadt Hamburg auf Sie und insbesondere auf Ihren literarischen Output?
Kristine Bilkau: Hamburg ist für Literaturschaffende ein guter Ort, finde ich, weil es hier eine lebendige Szene gibt, mit vielen schönen, interessanten Veranstaltungsformaten und -orten. Das liegt vor allem an den Menschen, die das möglich machen mit ihren Ideen und ihrem Engagement, und daran, dass es die nötige finanzielle Förderung von der Stadt gibt. Nur die seit Jahren steigenden Mieten, die sind für Kunstschaffende in Hamburg ein Problem. Mit den steigenden Energiepreisen verschärft sich für viele die Situation noch.
Wie kommen Sie auf die Ideen für Ihre Bücher? Ist der Ausgangspunkt in erster Linie etwas in Ihnen selbst oder kommt die Eingebung eher von außerhalb?
Ich würde sagen: beides. Es sind Beobachtungen, die ich verarbeite, aus denen dann Figuren entstehen. Ein Text beginnt für mich immer mit den Figuren, irgendwann sind sie da, und ich muss sie erst einmal kennenlernen. Das bedeutet, dass ich am Anfang schreibe, um die Figur entstehen zu lassen. Von diesen Texten landet dann wenig im Roman, es bleibt eine verborgene Arbeit.
Wie war das konkret für Ihren Roman „Nebenan“?
Auch hier begann es mit den Figuren, Astrid und Julia, sowie der Region, die Gegend um den Nord-Ostsee-Kanal. Ich hatte für beide Figuren klare Ausgangsbilder: Astrid, die Ärztin, die zu einem Notfall gerufen wird und die Situation nicht klar einschätzen kann, muss entscheiden, ob sie die Polizei einschaltet. Julia, die im Garten steht, in ihr eigenes Haus blickt und dort kleine Kinder sieht, eine Familie, nach der sie sich sehnt.
„Ich finde es schön, mitzubekommen, woran die anderen gerade arbeiten“
Eine der beiden Protagonistinnen in „Nebenan“ verbringt viel Zeit auf Instagram und träumt sich auf diese Weise in die vermeintlich perfekten Leben, die ihr dort präsentiert werden. Welche Rolle spielen die sozialen Medien in Ihrem Leben?
Ich nutze soziale Medien vor allem, weil ich es wichtig finde, mit anderen Literatur- und Kunstschaffenden verbunden zu sein. Auch, um mich zu informieren, wenn es um Kunst und Ausstellungen, Literatur und Lesungen geht. Und soziale Medien können ein gutes Recherchemittel sein. Zum Beispiel auch, um vergessene Autorinnen und Künstlerinnen wiederzuentdecken.
„Was nehmen wir wahr? Wie ordnen wir das ein? Was blenden wir aus? Was verdrängen wir? Für mich gehört das zur Frage des sozialen Miteinanders dazu.“
Kristine Bilkau
In der (Pop-)Musik kommt man um den Einsatz sozialer Medien kaum herum. Wie ist das Ihrer Einschätzung nach im Literaturbetrieb?
Das lässt sich schwer sagen. Es gibt Autorinnen und Autoren, die soziale Medien für sich nicht nutzen und trotzdem ihre Leserschaft finden. Aber ich selbst finde es schön, mitzubekommen, woran die anderen gerade arbeiten, wo sie lesen, wenn das nächste Buch erscheint. Und es gibt auf Twitter und Instagram auch sehr engagierte Leute aus dem Buchhandel, auf deren Literaturtipps und -entdeckungen ich ungern verzichten würde.
Leere
Im Deutschlandfunk wurde sehr treffend bemerkt, dass es in „Nebenan“ sehr viel um Leere geht – seien es leer stehende Häuser oder die Leere in den Protagonistinnen. Finden Sie diese Feststellung treffend?
Ja, das kann man so sehen. Wobei es ja nur auf den ersten Blick eine Leere ist. Die ungenutzten Ladenräume sind Orte des Stillstands, die aber für Astrid mit Erinnerungen behaftet sind. Sie sieht dort noch das, was die Kleinstadt einmal war. Und das leere Haus der Nachbarn ist für Julia ein Rätsel. Sie ist gezwungen sich damit auseinanderzusetzen, mit den Menschen, die dort gewohnt haben. Beide, Julia und Astrid, schärfen ihren Blick auf ihr Umfeld, ihr Nebenan, und erfahren dabei etwas über sich selbst. Auch Gewalt spielt für beide Frauen eine Rolle, angefangen bei den auf den ersten Blick kaum sichtbaren, alltäglichen Nuancen, mit denen sie zu tun haben. Was nehmen wir wahr? Wie ordnen wir das ein? Was blenden wir aus? Was verdrängen wir? Für mich gehört das zur Frage des sozialen Miteinanders dazu.
War dieses Spiel mit der Leere von Anfang an intendiert?
Ja, ich habe von Anfang an über Leerstellen nachgedacht, wie sie sich auf die Figuren auswirken und was sie, unter dem Brennglas einer Kleinstadt, über die Gesellschaft aussagen können.
Die Fragilität des Miteinanders
Leere bedeutet ja, dass nichts da ist. Was ist am Nicht-vorhanden-sein so spannend, dass Sie es zum zentralen Bestandteil eines Buches gemacht haben?
Diese Leerstellen zeigen ganz fein die Brüche in unserem Miteinander. Die leeren Geschäfte im Stadtzentrum sind soziale Orte, sind ehemalige Begegnungsorte, und sie zeigen, wie empfindlich unser Miteinander ist, wie schnell es auf politische und ökonomische Veränderungen reagiert, wie wichtig es ist, da genau hinzusehen. Das leere Haus erzählt auch, wie zerbrechlich Geborgenheit sein kann. Der französische Philosoph Gaston Bachelard hat in seinem Buch „Poetik des Raumes“ sinngemäß gesagt: Ein Nest ist ein fragiler Ort, der Stabilität vortäuschen soll. Das hat mich beschäftigt, davon wollte ich erzählen. Die Figuren kreisen gedanklich um das leere Haus. Dabei setzen sie sich mit der Fragilität des Miteinanders auseinander – ob in einer Stadt, einem Dorf, einer Nachbarschaft oder unter dem eigenen Dach.
Kommt es manchmal vor, dass Sie sich beim Schreiben selbst neu entdecken, weil Sie sich vielleicht mit Themen auseinandersetzen, mit denen Sie sich vorher noch nie beschäftigt haben?
Das gehört für mich zum Schreibprozess dazu. Es sind Erkundungen, die in immer tiefere Schichten führen. Ich betrachte es manchmal wie eine Art Höhlenwanderung. Ich wage mich langsam vor, leuchte hierhin und dorthin, und entdecke dann erst, in was für einem Labyrinth ich mich befinde.
Das nächste Buch? Kommt im Frühling 2023
Ebenfalls zentral in „Nebenan“ ist das Gefühl von Unsicherheit. Haben Sie den Eindruck, dass dieses Gefühl in Anbetracht der derzeitigen Weltlage gesellschaftlich größer und präsenter geworden ist?
Ja. Ich glaube, dass die massiven sozialen und politischen Krisen weltweit dazu führen, dass da eine größere Sehnsucht nach Stabilität aufkommt. Und eine große Furcht vor Einsamkeit. In meinem Roman sind es Julias Sehnsüchte nach stabilen Beziehungen, nach einer Familie, von denen sie ganz eingenommen ist. Da wird der Rückzug ins Private sehr idealisiert; die überschaubare Welt, die man selbst gestalten kann. Anders bei Astrid und ihrem Mann Andreas, deren Blick wandert eher nach draußen, auf das kleine Miteinander in der Stadt, um das sie sich Gedanken machen.
Arbeiten Sie bereits an einem neuen Buch? Können Sie schon etwas darüber verraten?
Ich stecke gerade in den letzten Zügen an einem Buch über das Schwimmen, das nächsten Frühling erscheint. Es ist ein persönliches Buch über meine Liebe zum Wasser.
Kristine Bilkau: Nebenan, erschienen im Luchterhand Literaturverlag, 288 Seiten, 22 Euro