Der Kampf um Autonomie in „Kleine Paläste“

Nach Saša Stanišić (Luchterhand) und Benjamin Maack (Suhrkamp) geht der Hamburger Literaturpreis 2021 an Andreas Moster mit dem Roman Kleine Paläste und somit an einen kleinen Verlag: Arche (Foto: Teja Sauer)
Nach Saša Stanišić (Luchterhand) und Benjamin Maack (Suhrkamp) geht der Hamburger Literaturpreis 2021 an Andreas Moster mit dem Roman Kleine Paläste und somit an einen kleinen Verlag: Arche (Foto: Teja Sauer)

Zwei Familien, deren Lebenslinien durch ein traumatisches Ereignis in der Vergangenheit miteinander verbunden sind: Literarisch vielschichtig und mit spannendem Plot durchdringt Andreas Moster in „Kleine Paläste“ die Lebenslügen eines Kleinstadtmilieus – wofür er nun den Hamburger Literaturpreis in der Kategorie „Buch des Jahres“ erhält

Interview: Ulrich Thiele

SZENE HAMBURG: Herr Moster, die Kleinstadt ist in etlichen Romanen, Filmen und Serien – zum Beispiel „Twin Peaks“ – das Setting, in dem sich hinter einer glatten Fassade Abgründe auftun. Hatten Sie solche Vorbilder im Kopf?

Andreas Moster: Bei mir hat es den konkreten Hintergrund, dass ich dieses Milieu gut kenne. Ich komme aus einer Kleinstadt in der Pfalz. Ich wusste zuerst, dass ich eine Geschichte erzählen will, in der Ereignisse aus der Vergangenheit die Lebenswege aller Beteiligten dominieren. Erst dann habe ich mich entschieden, die Geschichte vor dem Hintergrund der Kleinstadt zu erzählen. Mit diesen Einfamilienhäusern und den Gärten, die sich gegenüberstehen und in denen die Menschen sich gegenseitig beobachten.

Was für Strukturen prägen dieses Milieu?

So wie ich es in den 80ern erlebt habe, spielt es eine große Rolle, das Eigenheim so zu präsentieren, dass man gegenüber seinem Umfeld möglichst gut dasteht. Das eigene Glück bemisst man im Vergleich mit den anderen. Ich habe das Gefühl, dass solche Strukturen in der Kleinstadt stärker zutage treten als in der Großstadt, wo man die Möglichkeit hat, in eine Anonymität zurückzutreten. Ich hatte immer das Gefühl einer erzwungenen Nähe. Es gab einen Familienzusammenhang, dem ich mich nicht entziehen konnte, und Erwartungshaltungen, die ich nicht erfüllen konnte und wollte. Genauso geht es den Figuren in meinem Roman, die deswegen nicht in der Lage sind, ein freies, selbstbestimmtes Leben zu führen.

„Wir als Leser wissen: Nein, so ist es nicht“

Im Innersten wissen alle Figuren, dass sie Lebenslügen leben, trotzdem klammern sie sich an die Fassaden, die sie unglücklich machen.

Besonders deutlich wird das an der Figur der Silvia. Das ist die Mutter der einen Familie, die ihre gesamte Kraft darauf verwendet, das Haus nach ihrem Willen zu gestalten. Sie will ihr eigenes Wesen in den Räumen verwirklichen. Natürlich zeugt das von einer wahnsinnigen Hilflosigkeit. Sie sieht nicht die Option, wegzugehen oder an sich oder der Familienkonstellation etwas zu verändern. Sie sieht ihre einzige Option darin, ihr konkretes Umfeld handwerklich zu gestalten.

Hanno, Silvias Sohn, hat die Kleinstadt verlassen, dennoch ist er gefangen.

Hanno war über 30 Jahre weg von zu Hause, er ist ein rastloser Typ, der keinen Beruf und keine Beziehung lange halten kann. Als er in sein Elternhaus zurückkehrt, ist er erst mal komplett unfähig, irgendwas zu machen. Er muss seinen kranken Vater pflegen, was er nicht hinkriegt, beziehungsweise nur durch die Hilfe von Susanne, der Nachbarstochter. Irgendwann kommt er wie seine Mutter Silvia in diese hilflose Art zu handeln, indem er an der Fassade herumdoktert und die kleinen Macken des Hauses repariert. Ich wollte im Roman eine Figur haben, die von dem Ereignis in der Vergangenheit nichts Konkretes weiß und in gewisser Weise unschuldig ist, von diesem Ereignis aber dennoch in eine Unfreiheit getrieben wird.

Endet der Roman deswegen mit ihm?

Das Ende ist ein bisschen fies. Zuvor gibt es ein versöhnliches Ende für Susanne mit dem Ausblick auf Freiheit. Dann macht der Roman eine Schleife zurück ins Jahr 1986, wo Hanno als Jugendlicher in der Nacht nach dem Ereignis der Meinung ist, sein wahres Leben fange jetzt gerade an. Wir als Leser wissen: Nein, so ist es nicht.

Gefangen in patriarchalen Strukturen

Der neue Roman „Kleine Paläste“ von Andreas Moster gewinnt den Hamburger Literaturpreis in der Kategorie „Buch des Jahres“
Der neue Roman „Kleine Paläste“ von Andreas Moster gewinnt den Hamburger Literaturpreis in der Kategorie „Buch des Jahres“

Interessanterweise schafft Susanne es, obwohl sie das Opfer des Ereignisses und immer zu Hause geblieben ist, sich am Ende loszulösen, während Hanno, der als junger Mann gegangen ist, handlungsunfähig bleibt.

In diesen beiden Figuren sind die Rollen ein bisschen verkehrt. Susanne steht seit Jahren in ihrem Kinderzimmer am Fenster und beobachtet durchs Fernglas, was im Haus der anderen Familie passiert. Dieses Spiel von Nähe und Distanz ist etwas, dass ich ganz stark mit dem Kleinstadtmilieu verknüpfe. Man ist sich vermeintlich sehr nah, trotzdem herrscht eine emotionale Distanz. Aber es ist auch ein Bild für dieses Sich-nicht-lösen können. Man hätte ja erwarten können, dass Susanne, nach allem, was passiert, die räumliche Distanz sucht. Stattdessen bohrt sie sich richtig rein und verhakt sich mit ihrer Vergangenheit. Erst im Laufe des Romans findet sie Möglichkeit, sich davon zu lösen. Hanno geht diese Möglichkeit komplett abhanden.

Hat das etwas mit dem Aspekt der Männlichkeit zu tun?

Es gibt im Roman die Figur des Carl, Hannos Vater. Er ist ein alter Patriarch, der in der Gegenwart ein kranker, dementer Mann ist. Er selbst kann zwar nichts mehr tun, trotzdem ist er das Zentrum des Romans, um das alle Figuren kreisen. Ich glaube, Hanno hat nie von seinen Eltern die Fähigkeit vermittelt bekommen, autonom zu handeln und bleibt in diesen patriarchalen Strukturen gefangen. Diese Strukturen verhindern auch so etwas wie eine Aufarbeitung, deswegen kann er sich zwar physisch lösen, indem er weggeht, emotional bleibt er aber an den Ort gebunden.

Am Schluss muss nicht alles gut werden

Inwiefern ist das seine eigene Schuld?

Die Strukturen sind zwar eine Erklärung für sein Gefangensein, aber er ist ja nicht völlig determiniert. Beim Schreiben des Romans hätte ich Hanno mehrfach am Kragen packen könne, ich hätte ihn am liebsten durchgeschüttelt und angeschrien: Reiß dich doch mal zusammen und mach jetzt einfach mal, leb’ dein Leben verdammt noch mal! Aber die Figur hat etwas anderes verlangt, nämlich ein Kontrapunkt zu Susanne zu sein. Ich wollte nicht, dass am Schluss alles gut wird, alle ihren Weg finden und glücklich in den Sonnenuntergang reiten. Das wäre der Geschichte nicht angemessen gewesen.

Sie erzählen den Roman aus verschiedenen Perspektiven, auffällig oft aus weiblicher.

Ich habe in meinen Texten immer das Gefühl, dass massiv etwas fehlen würde, wenn ich nur aus männlicher Perspektive schreiben würde.

Was wäre in „Kleine Paläste“ verloren gegangen?

Der Kampf um Autonomie, den diese Frauen im Buch stärker und härter führen müssen als die Männer. Damit wäre eine Dynamik, eine Entwicklung verloren gegangen. Aus rein männlicher Perspektive wäre der Roman zu statisch geworden.

Fassaden, Verheimlichungen und Nicht-Wahrhaben-Wollen

Der Roman beginnt mit Silvias Tod, den sie selbst aus der Geisterperspektive beschreibt.

Sie begleitet die Leser als Stimme aus dem Jenseits – sie kann nicht mehr eingreifen und muss nun zusehen, wie ihr Lebenswerk, ihr Haus, vor ihren Augen zerbröselt.

Sie sagten einmal, dass diese Geisterfiguren in vielerlei Hinsicht den Lesern ähneln. Können Sie das erläutern?

Die Geister im Roman ziehen keine Vorhänge zurück und sie verrücken keine Gläser. Sie sind nach wie vor menschliche Figuren, die aber nicht mehr in der Lage sind, physisch in die Welt einzugreifen. Gleichzeitig haben sie die Fähigkeit, die intimsten Momente der Lebenden zu beobachten. Das erinnert mich an die Leserperspektive: Man folgt einer Geschichte, kann aber nicht eingreifen. Gleichzeitig war es mir wichtig, dass diese Geister eine Entwicklung durchmachen. Im Falle von Silvia ist die Entwicklung, dass sie auf ganz brutale Weise auf ihre Lebenslügen stößt und erkennen muss, dass ihr Leben zu großen Teilen auf Fassaden und Verheimlichungen und Nicht-Wahrhaben-Wollen aufgebaut war. Gegen Ende des Romans trifft sie zumindest insofern eine Entscheidung, als dass sie anfängt, sich alternative Lebensmöglichkeiten vorzustellen – auch wenn es für sie zu spät ist.

„Bis zu einem gewissen Grad ist es egal, was andere von einem denken.“

Andererseits können die Geister ja eingreifen, zumindest insofern, als der demente und im Rollstuhl sitzende Carl sie wahrnimmt.

Es wird zumindest angedeutet, dass es den Geistern doch einmal gelingt, in die physische Welt einzugreifen. Für mich weist das vor allem darauf hin, dass Carl selber schon langsam in Richtung Jenseits abdriftet. Aber ich wollte die Geister auch als Treiber der Geschichte drin haben, weil ich zeigen wollte, dass die vererbte Schuld und die Versäumnisse im Leben über den Tod hinaus wirken.

Sie leben in Hamburg in einem selbst gewählten familiären Zusammenhang. Was möchten Sie anders machen, als Sie es gelernt haben?

Ich versuche vor allem, meinen Kindern nicht mitzugeben, wie sie sich zu verhalten haben, damit nach außen hin alles gut aussieht. Als ich ein Kind war, hieß es immer: „Das kannst du nicht machen, was sollen denn die und die denken?“ Ich versuche meinen Kindern irgendwie zu vermitteln, dass es bis zu einem gewissen Grad egal ist, was andere von einem denken.

Andreas Moster: „Kleine Paläste“, Arche Verlag, 304 Seiten, 22 Euro
Am 6. Dezember um 19.30 Uhr werden im Literaturhaus die Hamburger Literaturpreise 2021 in elf Kategorien verliehen


 SZENE HAMBURG Stadtmagazin, Dezember 2021. Das Magazin ist seit dem 27. November 2021 im Handel und auch im Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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