Literaturkritik: Von virtuosen Kurzgeschichten, den wilden Siebzigern und Familienbanden 

Saša Stanišić meldet sich in „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ mit neuen, wortgewandten Erzählungen zurück, Eve Babitz’ „Sex & Rage“ ist eine Zeitreise in die Siebziger und Paula Irmschler stellt in „Alles immer wie damals“ eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung in den Mittelpunkt
Neue Literaturkritiken zu: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ (Saša Stanišić), „Alles immer wie damals“ (Paula Irmschler) und „Sex & Rage“ (Eve Babitz) (©Luchterhand/dtv/S. Fischer)

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne: Langer Titel, kurze Geschichten

„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ von Saša Stanišić ist bei Luchterhand erschienen (©Luchterhand)

Lange Buchtitel haben spätestens seit Jonas Jonasson und dessen „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“ oder „Drei fast geniale Freunde auf dem Weg zum Ende der Welt“ wieder Hochkonjunktur. In eine ähnliche Kerbe schlägt nun auch der vielfach ausgezeichnete Hamburger Schriftsteller Saša Stanišić mit seiner langtiteligen Kurzgeschichtensammlung „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“. Darin setzt sich Stanišić gewohnt wortgewandt und virtuos mit der Frage auseinander, was hätte sein können, wenn die Leben seiner Protagonisten und Protagonistinnen anders verlaufen wären. Dabei wird er mal philosophisch, mal poetisch, immer menschlich und manchmal lustig. Mit seinem wirklich einzigartigen Schreibstil nimmt einen Stanišić auch mit seinem aktuellen Werk von der erste Zeile an gefangen und macht mit jedem neuen Satz Werbung für den nächsten. Und das Schöne ist: Wenn man den sperrigen Titel erst mal geschafft hat, wird es nur noch leichter.

Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne, Luchterhand, 256 Seiten, 24 Euro

Sex & Rage: Die wilden Siebziger

„Sex & Rage“ von Eve Babitz ist bei S. Fischer erschienen (©S. Fischer)

Eve Babitz’ Roman „Sex & Rage“ ist nicht neu. Erstmals ist er 1979 erschienen, doch der S. Fischer Verlag bringt ihn nun – welch ein Glück – noch einmal neu heraus. Leider stand Babitz bis zu ihrem Tod 2021 häufig im Schatten der berühmten Männer, mit denen sie liiert war, darunter Jim Morrison (The Doors), Maler Ed Ruscha, Steve Martin und Harrison Ford. Dabei lohnt es sich immens, sich mit ihrem Werk als Künstlerin und Autorin auseinanderzusetzen – wie „Sex & Rage“ nun noch einmal in aller Deutlichkeit zeigt. Es geht darin um Jacaranda, die in Los Angeles aufwächst und als junge Erwachsene in den Siebzigern durch ihre Schönheit plötzlich unzählige Männer anzieht. Ihr Leben verändert sich, sie zieht von Party zu Party, hat Affären, manchmal Beziehungen, bis ihr irgendwann alles zu langweilig wird. Sie beschließt daraufhin, Schriftstellerin zu werden und nach New York City zu ziehen. Und es macht unfassbar Spaß, ihr dorthin zu folgen, denn Babitz hatte ein ungemein gutes Gespür, eine tolle Beobachtungsgabe und viel Witz, um ihrer Protagonistin (die ihr selbst nicht ganz unähnlich sein dürfte) Leben einzuhauchen.

Eve Babitz: Sex & Rage, S. Fischer, 272 Seiten, 24 Euro

Alles immer wegen damals: Für die Familie

„Alles immer wegen damals“ von Paula Irmschler ist bei dtv erschienen (©dtv)

Schriftstellerin Paula Irmschler hat über Mütter in der DDR mal gesagt: „Ich behaupte, dass es eine besondere Form der Mütterlichkeit im Osten gibt, nämlich eine pragmatische. Die meisten Frauen haben gearbeitet, die Betreuungssituation lag nicht allein bei der Mutter und hat die Gesellschaft als Ganzes mehr betroffen.“ Diese Behauptung ist auch der Ausgangspunkt ihres Familienromans „Alles immer wegen damals“, in der eine komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht. Die 29-jährige Karla hat nämlich den Kontakt zu ihrer Mutter abgebrochen, ist von Leipzig nach Köln gezogen und fühlt sich irgendwie falsch im Leben. Doch auch ihrer 59-jährigen Mutter Gerda geht es nicht gut, insbesondere nicht nach der Trennung von ihrem Partner. Um die beiden Frauen wieder zusammenzubringen, haben Karlas Geschwister ihnen einen Musical-Besuch in Hamburg mit Übernachtung geschenkt. Eine mutige Idee, bei der die beiden Frauen gezwungen sind, sich mit sich selbst und ihrem Konflikt auseinanderzusetzen. Und das lesend mitzuerleben, macht wirklich Spaß – zumal Irmschlers Sätze auf jeder Menge Identifikationspotenzial aufgebaut sind.

Paula Irmschler: Alles immer wegen damals, dtv, 320 Seiten, 24 Euro

Diese Kritiken sind zuerst in SZENE HAMBURG 07/2024 erschienen.

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