Lucy Fricke – Das Archiv im Kopf

Lucy Fricke: „Meine Hoffnung beim Schreiben war auch, mit Gesprächen zu beginnen, bevor es zu spät ist“. Foto: Dagmar Morath

Ein Gespräch mit der Autorin über ihr Erfolgsprojekt HAM.LIT, die Schwierigkeiten der Kunst und ihren neuen Roman.

SZENE HAMBURG: Lucy, du bist gebürtige Hamburgerin und lebst jetzt in Berlin. Als Schriftstellerin: Welche Stadt ist inspirierender? Und warum überhaupt?
Lucy Fricke: In der Millennium-Nacht habe ich hoch pathetisch verkündet, dass ich Hamburg verlassen werde. Zwei Wochen später hatte ich eine Wohnung in Berlin. Ich musste einfach mal raus, wollte durch andere Straßen ziehen und nicht an jeder Ecke irgendwelchen Erinnerungen begegnen. Das war nötig und enorm befreiend, ich kannte damals niemanden in Berlin, und habe auch erst hier ernsthaft mit dem Schreiben begonnen. Alles Neue ist für mich inspirierend. Inzwischen ist Berlin längst nicht mehr neu und Hamburg als Heimatstadt natürlich auch nicht, also versuche ich, so oft wie möglich auf Reisen zu gehen. Ich reise nicht, um zu entspannen, sondern um wach zu werden. An anderen Orten sind bei mir alle Kanäle offen, ich sauge alles auf und kehre dann zum Arbeiten an den Schreibtisch zurück.

Als Mitglied des PEN Deutschland hast du nicht nur den Blick durch die Augen einer Schreibenden, sondern auch die exogene Perspektive auf das Schaffen anderer Autoren. Mit welchen Schwierigkeiten bist du dort konfrontiert?
Vor einigen Jahren war ich zehn Wochen lang im International Writing Program an der Universität Iowa. Von 30 Schriftstellern aus 28 Ländern war ich die einzige, die vom Schreiben halbwegs leben konnte. Nicht, weil ich mehr Erfolg, Talent oder Disziplin gehabt hätte, sondern weil ich in Deutschland lebe. Hier gibt es Preise und Stipendien, Verlagsvorschüsse, Honorare für Lesungen.

Das ist die Frage nach dem Überleben des Künstlers…
Und die nach der Freiheit, das zu schreiben, was man will. Ich saß dort abends mit Autoren in der Kneipe, die in ihren Heimatländern Todesdrohungen erhalten hatten, jahrelang inhaftiert gewesen sind oder auf der Liste des pakistanischen Geheimdienstes standen. Sie schrieben unter Lebensgefahr. Wenn einem das erst einmal bewusst ist, fängt man an, sich für verfolgte und inhaftierte Schriftsteller zu engagieren, das ist eines der Hauptanliegen vom PEN-Club. Außerdem hört man auf zu jammern. Jedes Selbstmitleid verbietet sich, sobald man weiß, unter welchen Bedingungen die internationalen Kollegen leben und schreiben.

Du selbst hast gerade dein viertes Buch zur Welt gebracht und gehst damit auf Premierenlesung. Ist der Konflikt in „Töchter“ biografisch beeinflusst oder ein fiktives Dokument gesellschaftlicher Geschichte?
Die Handlung im Roman ist fiktiv, alles andere ist so oder so ähnlich gesagt, gedacht und erlebt worden. Man könnte sagen: Alle Details stimmen, der Rest ist frei erfunden. Seit ein paar Jahren sind im Freundeskreis die Eltern ein größeres Thema. Das Verhältnis kehrt sich um, sie brauchen jetzt unsere Hilfe. Der Blick auf sie ändert sich, wenn sie kurz vorm Tod stehen. Meinen Eltern geht es zum Glück noch sehr gut, aber meine Hoffnung beim Schreiben war auch, mit Gesprächen zu beginnen, bevor es zu spät ist.

Vor deiner schriftstellerischen Ausbildung in Leipzig hast du beim Film gearbeitet: Für die Hamburger Klassiker „Kurz und Schmerzlos“ und „Absolute Giganten“ warst du verantwortlich für Script und Übergänge. Wie haben diese Projekte dein späteres, jetziges Schaffen beeinflusst?
Script/Continutiy ist ein wahnsinnig akribischer Job, man ist zuständig für die sogenannten Anschlüsse und muss sich alles merken. Nach über 20 Filmproduktionen habe ich das Beobachten aufs Härteste trainiert, das ist ins Unterbewusstsein eingedrungen. Ich scanne quasi permanent meine Umgebung und kann das beim Schreiben abrufen. Also verfüge ich über ein riesiges Archiv detailgenauer Aufnahmen. Ich erfinde wenig und hole fast alles aus der Erinnerung.

2010 war dann endlich das Jahr der HAM.LIT: Du hast die Veranstaltung initiiert und leitest sie noch heute. Was hat sich in den letzten acht Jahren verändert – sowohl notgedrungen, als auch aus gewollter Entwicklung heraus?
Das Kuratieren ist viel aufwendiger geworden. In den ersten zwei Jahren habe ich hauptsächlich Freunde und Bekannte eingeladen, Autoren, die ich kannte, deren Arbeit ich schätzte. Aber so viele Freunde habe ich nun auch nicht, dass ich jedes Jahr 15 neue bei der HAM.LIT präsentieren könnte. Inzwischen wählen wir aus etwa 40 bis 50 Büchern aus, wir fordern viel an, aber noch viel mehr wird uns zugeschickt, von den Verlagen, manchmal auch von den Autoren direkt. Es ist wirklich in Arbeit ausgeartet.

Nach welchen Kriterien wählt ihr Autoren und Musiker des Line-ups aus?
Daniel Beskos als Verleger und ich als Autorin bewegen uns viel in der Szene, alles was uns auffällt kommt erst mal auf die Liste. Es ist zum Glück immer noch so, dass wir einladen können, wer uns gefällt und überzeugt, unabhängig von Verkäuflichkeit. Die Qualität ist für uns das Wichtigste. Und es sollen nicht nur verschiedene Gattungen präsentiert werden, sondern auch unterschiedliche Stile und Themen, Debütanten und etablierte Autoren.

Dafür bedarf es sicherlich eines guten Supports…
Seit Jahren stärken uns die Kulturbehörde und verschiedene Stiftungen den Rücken, allen voran die Hamburgische Kulturstiftung, die uns von Beginn an auf beeindruckende Weise unterstützt, ohne die würde gar nichts gehen.

Und deine Motivation?
Tatsächlich habe ich die HAM.LIT aus purem Frust gegründet. Mein erstes Buch war erschienen, ein ziemlicher Flop, und ich hatte Lesungen hinter mir, die von Seiten der Veranstalter derart lieblos und inkompetent organisiert waren, dass ich dachte: Das muss doch anders gehen. Ich habe von Autorenseite aus gedacht: Wie sollte eine Veranstaltung sein, bei der ich selbst gern lesen würde. Das halte ich immer noch für den besten Weg: Wenn es den Künstlern gut geht, profitiert davon das Publikum. Und ich glaube, das bekommen wir ganz gut hin. Dass der Abend inzwischen jedes Jahr ausverkauft ist, spricht dafür. Das sorgt auch für die hohe Motivation, wenn sich am Ende des Abends die Gäste und die Künstler bei uns bedanken, das macht uns glücklich. Wir träumen schon lange davon, HAM.LIT auf Tour zu schicken. Alle KünstlerInnen in einen Bus und am nächsten Tag dasselbe Programm in einer anderen Stadt. Eine Band, die jedes Jahr nur für ein paar Tage existiert, das wäre was.

Interview: Jenny V. Wirschky 

HAM.LITUebel & Gefährlich, 1.2.18, 19 Uhr


 Dieser Text ist ein Auszug aus SZENE HAMBURG, Februar 2018. Das Magazin ist seit dem 26. Januar 2018 im Handel und zeitlos in unserem Online Shop oder als ePaper erhältlich!

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