SZENE HAMBURG: Frau Rabahallah, Ihr Lebenslauf zeichnet Sie vor allem als eines aus: ein Tausendsassa zu sein. Sie haben BWL und Fremdsprachen studiert, für verschiedene Umwelt-NGOs gearbeitet, TV-Dokumentationen vertrieben, als Producerin, Co-Autorin und Co-Regisseurin gearbeitet et cetera. Inwiefern kommt Ihnen diese offensichtliche Vielfältigkeit als Leiterin des Filmfest Hamburg zugute?
Malika Rabahallah: Ich bin bestens vorbereitet würde ich sagen (lacht). Nein, im Ernst: Für meine neue Tätigkeit ist es wichtig, innerhalb der Branche gut vernetzt zu sein. Da kommen mir meine Berufsjahre bei der MOIN Filmförderung zugute – auch im Hinblick darauf, dass wir langfristig unser Industry-Programm für die Filmschaffenden und Fachbesucher:innen ausbauen wollen. Und BWL ist mindestens genauso wichtig wie Sprachen. Filmfestivals sind Orte des Austauschs mit Leuten aus aller Welt. Das macht mir großen Spaß, vor allem auch Gastgeberin in meiner Wahlheimat Hamburg zu sein.
Sie haben mal gesagt, dass Sie mit dem Filmfest Hamburg versuchen wollen, mehr Hoffnung in der Gesellschaft zu zeigen. Wie haben Sie das nun umgesetzt?
Wir eröffnen in diesem Jahr mit der französischen Tragikomödie „Könige des Sommers“, der Debütfilm von Louise Courvoisier. Das Ernste und das Heitere hat darin seinen Platz, großartig gespielt von Laiendarsteller:innen. Es ist viel los in der Welt, Schreckliches und Gutes. Aber es ist nicht alles hoffnungslos. Davon erzählt auch diese auf dem Land im französischen Jura spielende Geschichte und viele andere von Kathrin Kohlstedde und ihrem Team sorgfältig kuratierten Filme. Sie regen zum Nachdenken an, wir können gemeinsam lachen und weinen und nach dem Kinobesuch diskutieren. Irgendwie geht man immer anders aus dem Kino raus, als man reingegangen ist. Das wird auch bei unserem Eröffnungsfilm so sein. Und an dieser Erfahrung sollen möglichst viele Menschen teilhaben können.
Neun Monate Filmfest Hamburg: Malika Rabahallahs Fazit
Über die ersten vier Monate als Leiterin des Filmfest Hamburg haben Sie SZENE HAMBURG gesagt, das wäre wie Salsa und Rock ’n’ Roll gleichzeitig gewesen. Wie war es nun von Mai bis heute?
Ich habe schon ziemlich wunde Füße vom Tanzen (lacht). Es waren bis jetzt aufregende Tage und Monate, und es wird nicht weniger. Ich musste und muss mich noch in viele Prozesse einarbeiten, Leute kennenlernen, Arbeitsabläufe verstehen. Es macht mir sehr viel Spaß und ich bin sehr froh, mit einem so erfahrenen Team zusammenzuarbeiten.
Was war rückblickend für Sie das Herausforderndste in Ihrem – nun nicht mehr ganz – neuen Job?
Die Kürze der Zeit. Von Januar bis September sind es gerade mal neun Monate, um das Festival vorzubereiten. Ein Publikumsfestival erfordert eine andere Sichtweise als meine frühere eher branchenbezogene Tätigkeit. Es ist wichtig, sich immer wieder zu fragen, wen wir wie erreichen wollen.
Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Diversität
Jede neue Leiterin, jeder neue Leiter eines Filmfests versucht in der Regel ja, dem Festival seinen, ihren Stempel aufzudrücken. Auch Sie haben gesagt, dass Sie an ein paar Stellschrauben drehen wollten. Was haben Sie versucht anders zu machen als ihre Vorgänger?
Albert und sein Team haben vieles sehr richtig gemacht. Aber wir müssen das Festival zukunftsfähiger machen. Es gibt drei Themen, die im Moment jede Kulturinstitution bewegen: Das ist erstens die Digitalisierung – darüber wollen wir zugleich auch jüngere Leute ansprechen. Zweitens geht es um Nachhaltigkeit, die darf heute nicht mehr ausgeblendet werden, sondern muss Teil jeder Überlegung sein. Dabei geht es bei Filmfestivals vor allem um Catering und Reisen. So werden wir genau abwägen, wen und ob wir Filmschaffende aus anderen Kontinenten einfliegen werden. Wenn wir uns dazu entschließen, werden wir uns stärker mit anderen Filmfestivals und Produktionsfirmen absprechen – sodass zum Beispiel ein US-Regisseur, der ohnehin auf Europabesuch ist, bei uns einen Stopp einlegen kann. Drittens geht es um Diversität. Die Gesellschaft hat sich verändert. Wir machen ein Festival für alle Hamburgerinnen und Hamburger.
Filmfestivals sind Orte des Austauschs
Malika Rabahallah
Und da ist für mich ein großer Traum wahrgeworden: Am 3. Oktober feiern wir den Tag des freien Eintritts. Das heißt, an dem Tag sind alle Filmfestfilme in unseren fünf Festivalkinos Abaton, Passage, Cinemaxx Dammtor, Metropolis und Studio Kino kostenfrei. Auch unsere in diesem Jahr neun (!) „Filmfest ums Eck“-Kinos, Alabama, Koralle Lichtspielhaus, Magazin Filmkunsttheater, 3001 Kino, Blankeneser Kino, Hansa Filmstudio Bergedorf, Savoy Filmtheater, Astor Film Lounge und Zeise Kinos beteiligen sich an der Aktion mit jeweils einem Film. Die Aktion „Tag des freien Eintritts“ wird von der Hamburger Behörde für Kultur und Medien unterstützt.
Filme in barrierefreier Fassung beim Filmfest Hamburg
Ihnen ist Vielfalt und Inklusion wichtig. Wie stellen Sie beim Filmfest Hamburg sicher, dass das Festival divers aufgestellt ist?
Diversität bedeutet so viel. Zum Beispiel, welche Besuchergruppen kommen eigentlich zu uns? Wen sprechen wir an? Das ist im Moment ein eher älteres, weibliches Publikum, das von Haus aus kultur- und kinobegeistert und uns seit Jahren treu verbunden ist. Dieses möchten wir weiterhin halten, aber auch andere Menschen erreichen, die wir bisher noch nicht so wirklich für uns gewinnen konnten: Ältere und jüngere Generationen, Familien, vielfältigere kulturelle Gruppen und solche, die vielleicht wenig mit Kino zu tun hatten.
Das Festival findet vor allem im Zentrum Hamburgs statt. Da will ich unbedingt mehr in die Stadtgesellschaft und die Bewohner:innen aus anderen Vierteln für uns begeistern. Im Rahmen unserer Aktion „Tag des freien Eintritts“ am 3. Oktober arbeiten wir mit Bürgerhäusern, Stadtteilzentren und sozialen Einrichtungen zusammen und möchten durch das Bereitstellen von Ticketkontingenten möglichst vielen Menschen den Besuch bei Filmfest Hamburg ermöglichen.
Auch in Sachen Barrierefreiheit arbeiten wir an Lösungen, zumal wir eine Filmvorführung für Gruppen aus Seniorenheimen organisieren möchten. Dazu werden noch Gespräche geführt. Am Tag des freien Eintritts werden wir viele Filme deutsch untertiteln, was uns dank einer Förderung der Hapag-Lloyd Stiftung möglich ist. Und wir versuchen an allen Tagen auch Filme in einer barrierefreien Fassung zu zeigen. Es gibt dafür die Greta-App, mit der das Publikum während des Films Audiodeskriptionen und verstärkte Tonspuren hören kann.
„Ich kann es immer noch nicht fassen!“
Worauf sind Sie beim diesjährigen Filmfest besonders stolz?
Wir werden zwei großartige Stimmen des europäischen Kinos mit unserem Ehrenpreis auszeichnen, was mich sehr freut. Wir vergeben in diesem Jahr zwei Douglas Sirk Preise an den französischen Regisseur Jacques Audiard und an die britische Regisseurin Andrea Arnold. Beide werden nach Hamburg kommen und auch ihre jeweils aktuellen Filme präsentieren: „Emilia Pérez“ und „Bird“. Ich kann es immer noch nicht fassen!
In unserem Format „Gegenwartskino im Fokus“ stellen die deutsche Regisseurin Pia Marais und der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer ihre jeweils neuesten Filme „Transamazonia“ und „The End“ persönlich in Hamburg vor und wir zeigen von beiden noch jeweils zwei frühere Filme. Dann haben wir den dänischen Kinoregisseur Thomas Vinterberg zu Gast, der seine allererste TV-Serie „Families Like Ours“ bei uns vorstellen wird, sowie Mohammad Rasoulof, der mit seinem Film „Die Saat des heiligen Feigenbaums“, der als deutscher Beitrag ins Rennen für den Auslandsoscar 2025 geht. Und wir zeigen den diesjährigen Gewinner der Goldenen Palme in Cannes, „Anora“ von Sean Baker. Unser Abschlussfilm ist großes Kino: Pedro Almodóvars erstmals in englischer Sprache gedrehter Film „The Room Next Door“ mit Tilda Swinton und Juliane Moore in den Hauptrollen.
Die Gesellschaft hat sich verändert
Malika Rabahallah
Sie wollten unter anderem politisch kontroverse Filme zeigen. Welche sind das in diesem Jahr zum Beispiel?
Unser Programm zeichnet ein Bild unserer Gegenwart in all ihren Widersprüchen und Spannungen und Konflikten. In den Filmen geht es unter anderem um Klimakatastrophen, Klassenkampf, Diskriminierung, Ungleichheit und Rassismus. Politisches Kino wird vor allem aber nicht nur in unserer Sektion „Veto!“ abgebildet mit insgesamt acht Dokumentar- und Spielfilmen.
Film-Fest-Hamburg: „Wir sind auch groß im Feiern“
Wie sehen Sie das Filmfest Hamburg im Vergleich zur Berlinale oder dem Filmfest München?
Wir sind nach Berlin und München das drittgrößte Publikumsfestival in Deutschland. Budgetmäßig können wir allerdings nicht mithalten. Mehr Geld wäre nicht nur sehr schön, sondern auch sehr wichtig, um Ressourcen zu erhöhen und wettbewerbsfähig zu bleiben. Wir möchten auch gerne mehr internationale Talente in die Stadt holen. Das, was uns ausmacht und sehr geschätzt wird, ist die familiäre Atmosphäre und unser großartiges Filmprogramm mit den neusten Produktionen aus aller Welt, die bei uns ihre Deutschland-, Europa- oder auch Weltpremieren feiern. Wir können außerdem mit der Schönheit unserer Stadt punkten. Wir bieten Bootstouren und Elbphilharmonie-Führungen mit Filmschaffenden an, um ihnen auch nebenbei potenzielle Drehorte zu zeigen. Nachholbedarf haben wir in jedem Fall bei unserem Industry-Programm, was ich als ehemalige Produzentin, die um die Bedarfe der Branche weiß, weiter ausbauen möchte.
Wir müssen das Festival zukunftsfähiger machen
Malika Rabahallah
Was sollte man als Besucher*in des Filmfests Hamburg nicht verpassen?
Kommt unbedingt abends in unsere Filmfest Bar, in die Kasematte20, in unmittelbarer Nähe vom CinemaxX Dammtor. Es gibt großartige DJ-Sets, Karaoke und Live-Konzerte! Wir zeigen nicht nur Filme, sondern sind auch groß im Feiern in einer der schönsten Städte der Welt, frei nach dem Motto: Film-Fest-Hamburg.
Highlights beim diesjährigen Filmfest Hamburg
- „Könige des Sommers“, die französischen Tragikomödie von Louise Courvoisier ist der diesjährige Eröffnungsfilm.
- „Emilia Pérez“, ein Musical-Melodram von Jacques Audiard mit Zoe Zaldana. Jacques Audiard wird den Douglas Sirk Preis erhalten.
- „Bird“, britisches Drama von Andrea Arnold, sie bekommt ebenfalls den Douglas Sirk Preis.
- „Transamazonia“, Drama der deutschen Regisseurin Pia Marais.
- „Families Like Ours“, die erste TV-Serie des dänischen Kinoregisseurs Thomas Vinterberg, der auch zu Gast sein wird.
- „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ von Mohammad Rasoulof, der als deutscher Beitrag ins Rennen für den Auslands-Oscar 2025 geht.
- „Anora“, die Tragikomödie von Sean Baker, der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme in Cannes.
- „The End“, Endzeit-Musical von US-Filmemacher Joshua Oppenheimer mit Tilda Swinton.
- „The Room Next Door”, der erste in englischer Sprache gedrehte Film von Pedro Almodóvar ist der Abschlussfilm des Festivals. Neben Julianne Moore spielt hier ebenfalls Tilda Swinton die Hauptrolle.
Filmfest Hamburg, vom 26. September bis 5. Oktober 2024